4. Kapitel | Mein altes Ich

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Heute ist so ein Tag, an dem ich das Gefühl habe, dass alles was ich mache keinen Sinn hat. Es gibt Tage, da werde ich morgens wach und spüre, dass etwas nicht in Ordnung ist. Alles ist wie immer aber mein Körper und mein Geist währen sich dagegen, so als würden sie dagegen ankämpfen, dass dies ein guter Tag werden kann.
Ich wache schweißgebadet auf und in meinen Gedanken hängen noch die letzten Fetzen des Traums, die sich an mich klammern und versuchen mich wieder zurück zu reißen. Ich spüre wie mein Nachthemd an mir klebt und merke, dass das ganze Bett verwühlt ist, weil ich mich in der Nacht herum gewelzt hatte.
Ich bin total verschwitzt und spüre noch die getrockneten Tränen auf meiner Wange.
Ich stehe auf und will mir einen Kaffee machen. Ich habe heute frei und weiß noch nichts dem Tag anzufangen. Meinem früheren Ich wären hunderte Sachen in den Sinn gekommen aber ich fühlte mich als wäre mein Gehirn verstopft, mit den ganzen schlechten Gedanken und Erinnerungen und dem ganzen Schmerz und den tausend Fragen, so das ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich ging zum Schrank um mir was zum Anziehen zu suchen. Es gibt Tage, da ist mein Schrank so gut wie leer und ich gebe mich damit zufrieden was da ist und fühle mich darin wohl. Und dann gibt Tage, da ist es mir vollkommen egal was ich anziehe, weil es mir nicht wichtig ist. Und dann gibt es diese Tage, die schlimmsten. Ich stehe ich vor einem vollen Schrank und doch habe das Gefühl, dass das nicht meine Sachen sind. So als würden sie wem ganz anderem gehören. Schon als ich den Schrank auf machte merke ich, dass Heute so ein Tag werden würde. Ich kramte in meinen Sachen und sie fühlten sich alle so fremd. Nichts kam mir vertraut vor, weder der Stoff noch der Geruch. Ich nahm ein paar von den Teilen heraus die ich sonst gerne trug und zog eins davon an. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ich erkannte mich nicht wieder, es fühlte sich an als hätte ich dieses Teil noch nie getragen. Also probiere ich das nächste Teil an. Es fühlte sich an als wollte ich eine Person sein, die ich nicht war. Ich merke wie nach und nach die Verzweiflung und die Tränen in mir hoch steigen. Ich versuche sie runter zu schlucken. Nach dem fünften Teil spüre ich wie ich die Tränen nicht mehr zurückhalten kann und sie mir die Wange runter laufen. Ich kann mich einfach in keinen dieser Sachen wohlfühlen. Ich fühle mich in keinem dieser Sachen wie ich selbst. Ich laufe ins Bad und lasse mir eine heiße Wanne ein und setzte mich auf den Boden und sehe zu wie die Wanne sich nach und nach mit Wasser füllt. Ich ziehe mich aus und lege eine CD ein und steige in das heiße Wasser. Kaum versuche ich mich ein bisschen zu entspannen merke ich wie ich wieder anfange zu weinen aber diesmal sind es nicht nur ein paar Tränen, die mir die Wange runter laufen. Ich merke wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet und ich kaum noch Luft bekomme. Plötzlich fange ich an zu schluchtzen. Ich will das alles nicht mehr...Ich kann das alles nicht mehr. Ich weiß noch nicht einmal warum ich weine aber ich fühle mich einfach so alleine und verraten von allen. Als ich aus der Wanne steige ist meine Haut schon wieder ganz schrumpelig. Ich ziehe mir was über und beschließe mir etwas neues zum Anziehen kaufen zu gehen, etwas worin ich mich vielleicht wieder wohlfühlen konnte. Also nahm ich meine Tasche und lief zum Auto. Es war eigentlich ein schöner Tag, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten also beschloss ich am Auto angekommen zu Fuss zu gehen. Und so lief ich die kleinen Gassen entlang. Ich beobachtete im vorbeigehen die Leute. Eine Mutter die auf dem Balkon die Wäsche ihres Sohnes aufging oder das Pärchen, was lachen durch die Wohnung rannte. In der Stadt angekommen ging ich in eine kleine Boutique. Mein Blick fiel sofort auf ein knielanges weinrotes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Das wäre genau das gewesen, was mein früheres ich ohne zu zögern gekauft hätte. Also nehme ich es von der Kleiderstange. In der Kabine betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah eine schöne schlanke Frau, mit dunklen langen leicht gelockten Haaren. Das Kleid saß perfekt.
Es betonte meine Hüften und das Dekolleté. War das wirklich ich dort in dem Spiegel? Oder war es das was ich war oder gerne sein wollte? Ich war mir nicht ganz sicher aber ich beschloss das Kleid zu kaufen auch wenn ich es wahrscheinlich nie wieder anziehen werde. Aber heute werde ich damit die Person sein, die ich im Spiegel gesehen hatte auch wenn ich die nicht war und warscheinlich auch nie wieder sein werde. Ich Frage die Verkäuferin ob ich das Kleid anbehalten konnte und ging bezahlen. Ich beschloss erstmal etwas essen zu gehen, da ich meinen Magen schon grummeln hörte. Ich setzte mich in ein kleines Café und bestellte mir ein paar Croissants und einen Kaffee.
Ich überlegte was ich mit dem heutigen Tag noch anfangen sollte und kam zu dem Entschluss, dass ich heute einmal die Person spielen werde die ich früher mal war. Die Person, die aufgeschlossen ist und für jeden Spaß zu haben. Ich wollte nur einmal wieder so unbeschwert sein wie damals, wo ich mir noch nicht über so viele Dinge den Kopf zerbrechen musste. Zuhause angekommen fing ich an mich fertig zu machen. Ich begann meine Haare hoch zu stecken, so wie ich sie damals immer hatte. Ich hatte damals so viele Komplimente dafür bekommen jetzt trug ich sie kaum noch so. Ich schminkte mich sogar und trug Eyeliner auf, wie ich es früher immer getan hatte.
Als ich mit allem fertig war wollte ich ausgehen. Ich sah auf die Uhr, es war erst 16 Uhr also beschloss ich um die Zeit zu überbrücken wieder in die kleine Bar um die Ecke zu gehen wo ich schon vor ein paar Tagen war. Also stieg ich in mein Auto und fuhr los.
In der Bar angekommen, setzte ich mich an den Tresen und genoss die Blicke der Leute, die mich ansahen als ich herein kam. Ich hatte schon ganz vergessen, wie sich das anfühlt einen Raum zu betreten und das Gefühl zu haben, dass jeder einen Wahrnimmt. Der Barkeeper betrachtete mich einen Momente mit erstaunten Blicken und fragte mich was ich trinken wolle. "Das selbe wie immer" sagte ich. Er schmunzelte und sagte "kommt sofort". Ich spürte wie die Blicke der Männer mich durchbohrten und ich genoss es. Ein paar Drinks später beschloss ich mich auf den Weg zu machen. Es hatte ein paar Straßen weiter vor kurzem so ein neuer Szeneclub aufgemacht, der ziemlich gut sein soll. Früher wäre ich wahrscheinlich schon am ersten Tag dort gewesen aber die letzte Zeit konnte ich einfach nicht ausgehen auch wenn ich diese Ablenkung vielleicht hätte gebrauchen können. Ich musste feststellen, dass es stimmte was ich gehört hatte. Der Club war wirklich ziemlich gut. Also ging ich auf die Tanzfläche und tanzte zu Musik und für diesen Moment fühlte es sich an als würde die Musik alle Sorgen mitreißen. Ein paar Stunden später brauchte ich erstmal eine Pause vom tanzen und setzte mich an die Bar. Zugegeben Ich hatte vielleicht schon etwas viel getrunken aber das war mir heute egal. Dass erst mal seit fast einem Jahr hatte ich wieder richtig Spaß und musste nicht an all das denken was mir passiert ist.
Mein Blick schweifte durch den Raum und traf auf ihn. Ich spürte wie sich mein Magen verkrampfte und mit einem Schlag fühlte ich mich wieder nüchtern.
Neben ihm sah ich sie. Er sagte mir so oft dass es nur ein Ausrutscher gewesen wäre. Ob die wohl genauso blind und verliebt ist wie ich? Oder vielleicht meine er es mit ihr ja auch ernst? Das werde ich wohl nie erfahren. Ich bestelle mir gleich noch einen Drink. Jetzt hatte er mich auch gesehen. Er kam mit ihr zu mir rüber. "Hey Emily, wie geht's dir? Gut siehst du aus" sagte er mit seiner vertrauten Stimme. Einen Moment hätte ich fast angefangen zu lachen. Wie konnte gerade Er mir diese Frage stellen. Er hatte jedes Recht verloren überhaupt mit mir zu reden. Er hatte mich monatelang mit ihr betrogen, hatte sich nicht einmal bei mir gemeldet und fragt mich wie es mir geht? Auch noch mit ihr zusammen?
Das war zu viel. Ich konnte grade noch so ein kurzes "gut, danke" herausgequetschen, dann drehte ich mich um und ging. Ich merkte wie sich mein Magen bemerkbar machte und rannte in Richtung Toilette. Ich hörte noch wie sie mir ein "machs gut Emily, war schon dich zu sehen" hinterher rief. Ich fühlte wie mir das alles einfach viel zu viel wurde. Ich wollte einen Tag in die Rolle eines anderen schlüpfen. Einen Tag meine Mauer und meine Ängste vergessen. Doch der Tag zeigte mir, dass ich noch nicht bereit dafür war.

Zerbrochen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt