Schnell klappte ich das Buch wieder zu. Ich wusste nicht, dass Rose Tagebuch schrieb. Zumindest nicht, dass sie es immer noch tat. Langsam öffnete ich es wieder, nur um es gleich wieder zu schließen. Ich konnte es nicht tun. Sie war meine beste Freundin, doch trotzdem konnte ich nicht in ihre Privatsphäre eindringen. Aber genau das war es, sie war meine beste Freundin. Wenn wir übernachteten duschte ich, während sie auf dem Klo saß und mir zu textete. So etwas wie Privatsphäre gab es bei uns nicht. Ich wusste doch bereits alles aus ihrem Leben. Oder etwa nicht? Als ich plötzlich jemanden die Treppen hinaufsteigen hörte, versteckte ich das Tagebuch rasch unter meiner Strickjacke. Die Tür öffnete sich und Lilian steckte den Kopf herein.
„Deine Schokolade wird kalt", lächelte sie und ich nickte. „Ich komme, einen Moment", erwiderte ich und sie verschwand. Erleichtert atmete ich auf und zog das Tagebuch hervor. Leise schlich ich aus Rosies Zimmer, die Treppen hinab zu einem Mantel und ließ es in die Tasche gleiten. Dann gesellte ich mich zurück zu meiner Mutter.
Wir blieben noch ein paar Stunden, dann fuhren wir zurück nach Hause. Dad wartete bereits auf uns mit dem Abendessen. Er kochte sehr gern. Noch lieber, als meine Mutter. An diesem Abend hatte er eine Kartoffelsuppe mit Würstchen gezaubert. Er stellte mir einen dampfenden Teller vor die Nase.„Willst du das Tischgebet sprechen?", fragte meine Mutter und ich nickte. Wie bei jedem Essen falteten wir unsere Hände und ich sprach: „Lieber Gott, danke für dieses gute Mahl. Danke für das Haus über unseren Köpfen und das fließende Wasser. Danke für diese Familie. Danke für alles, was du für uns tust. Amen."
Ich hatte nicht sonderlich um den heißen Brei geredet, denn ich hatte Hunger. Meine Eltern beschwerten sich nicht und wir fingen an zu essen. „Gibt es etwas Neues von Rosalie?", fragte mein Dad, während er seine Suppe umrührte, damit sie etwas abkühlen konnte. Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, nichts. Die Polizei hat nicht einmal einen Hinweis und sie wurde nirgendwo gesehen."
„Das ist wirklich merkwürdig."Er sah meinen besorgten Blick und fügte hinzu: „Sie werden sie schon finden, Iva. Weit kann sie nicht gekommen sein."
Ich sagte dazu nichts und aß schweigend mein Essen auf. Ich konnte nicht länger darüber reden. Ich dachte an nichts Anderes mehr.„Darf ich aufstehen? Ich habe noch Hausaufgaben zu tun", murmelte ich und meine Mutter nickte. „Räume deinen Teller aber noch in die Spülmaschine."
„Ist gut."Ich tat wie mir geheißen und verzog mich in meinem Zimmer. Dort setzte ich mich im Schneidersitz auf mein Bett und holte Rosalies Tagebuch hervor. Langsam fuhr ich mit den Fingern über den Einband.
Sollte ich es wirklich lesen? Sie würde es mir nie verzeihen. Aber vielleicht, ja vielleicht würde ich so herausfinden, wo sie hingegangen war und warum sie überhaupt weglief.
Ich holte einmal tief Luft und öffnete die erste Seite.
Rosies ordentliche Schrift erschien und ließ mich aus unerklärlichen Gründen frösteln. Ich übersprang das ‚Tagebuch von Rosalie Ally Thompson' und begab mich auf die erste Seite.
Es war ein Spruch, jeder Buchstabe mit einer verschiedenen Farbe geschrieben.
Is it enough to love?
Is it enough to breathe?
Somebody rip my heart out
And leave me here to bleed
Is it enough to die?
Somebody save my life
I'd rather be anything but ordinary please
Es war ein Lied, das Rose und ich oft zusammen gehört hatten. Es hieß ‚Anything but ordinary' von Avril Lavigne. Sie war eine von Rosalies Lieblingssänger gewesen.
Ich blätterte um.
3. Mai. 2016
Das war vor eineinhalb Jahren gewesen. Wir hatten gerade die Hälfte unseres Sophmoreyear an der High School rum. Der Eintrag war nicht lang und ihre Schrift ein klein wenig anders, als sie es nun war.
Sie begann nicht mal mit ‚Liebes Tagebuch', sondern hatte einfach darauf losgeschrieben.
3. Mai . 2016 Eintrag 1.
Ich hege keine Erwartungen, dass ich in diesem Tagebuch positivere Sachen aufschreiben werde, aber wie man ja bekanntlich sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mein Name ist Rosalie Thompson, ich bin 15 Jahre und bin bald mit meinem Sophmorejahr an der High School fertig. Ich hatte gehofft, dass die High School besser wird, aber da habe ich mich getäuscht. Ich kann diese ganzen Mädchen nicht mehr ertragen, die hochnäsig durch die Gänge spazieren und die kleinen wie Dreck behandeln. Wenn ich ein Senior bin, werde ich besser sein. Und freundlicher.
Ich habe heute wieder Liam gesehen. Er sah so gut aus wie immer. Einmal meine ich sogar, dass er mich angelächelt hat, aber vielleicht habe ich mir das wieder nur eingebildet.
Iva meinte, dass er definitiv mich gemeint hat, aber warum sollte er? Alles, was ich getan habe, war ihn anzustarren und meinen Ordner vom Tisch zu fegen, als er mich nach einem Stift fragte. Aber ich versuche positiv in die Zukunft zu sehen, wenn ich erst einmal auf ein College in Chicago gehen, werde ich darüber lachen, aber bis dahin muss ich die High School überstehen. Und meine Eltern.
Mit diesen Worten endete der erste Eintrag. Ich konnte mich an Liam erinnern. Ich wusste, dass sie ihn süß fand und das sogar sehr lange. Er war einer dieser Typen gewesen, den jedes Mädchen einmal anhimmelte. Selbst im Sophmorejahr hatte er ständig eine Neue, aber niemanden schien es zu scheren. Dabei sah er nicht einmal besonders gut aus. Das Einzige, was ihn so besonders machte, waren seine schwarzen Haare und dazu diese strahlend blauen Augen. Trotzdem war er ein Idiot. Aber Rose hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt. Bis sie Noah kennenlernte. Ich blätterte weiter.
2. April. 2016 Eintrag 2.
Ich sah Liam heute mit einem anderen Mädchen reden. Ich weiß nicht, warum, aber nur ihm dabei zuzusehen, wie er sie anlächelte und ihren Arm streifte, brachte mich um den Verstand. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen und hätte mir die Seele aus dem Leib geweint. Es fühlt sich an, als ob all die Schmetterlinge in meinem Bauch mit einem Mal erschossen werden würden. Ich weiß, sie haben nur geredet, aber es macht mich verrückt, dass er nie versucht mit mir zu reden. Bin ich nicht gut genug? Anscheinend bin ich wirklich für niemanden gut genug. Warum sollte sich nach all den Jahren irgendetwas ändern?
Als ich nach Hause kam, haben Mom und Dad mal wieder gestritten. Ich weiß nicht genau, worum es ging. Aber wahrscheinlich wieder um mich. Dass ich verzogen sei und faul und die Schule nicht schaffen würde. Es stimmt, ich bin schlechter geworden, aber nur, weil ich das Gefühl habe, dass alles zu viel wird. Ich will noch immer Architektur studieren und das werde ich auch schaffen, aber nicht, wenn ich mich nicht einmal mehr zu Hause sicher fühle. Als sie nach einer halben Stunde nicht aufhörten, bin ich aus dem Fenster geklettert und habe einen Spaziergang gemacht. Im Wald fühle ich mich immer ein wenig wohler, als hier in der Stadt. Manchmal streife ich durch den Wald, siehe zu wie die Blätter um mich herum wehen, als wollten wenigstens diese mich umarmen und ich frage mich dann:" Was, wenn es so für den Rest meines Lebens sein wird?"
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Meeeeensch, ich hasse es, dass man hier nur eine Schrift haben kann :(
Tja die ersten Eintrage sind gelesen. Ui ui.
Im Anhang findet ihr das Lied, dass sie auf die ersten Seiten geschrieben habt. Kommis und Votes sind immer erwünscht, aber das wisst ihr ja ;)

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Come find me
Teen FictionEs ist angsterregend, wie schnell sich Zeiten ändern, nicht wahr? Vor gefühlt ein paar Wochen war man noch 13 und glaubte an Wunder und dann wurde man 17 und glaubte an gar nichts mehr. Es ist der 3. September, an dem Rosalie Thompson verschwindet...