Unsere Zeit

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Ich streiche mit meinen Fingern über das Weizen, die Halme kitzeln meine Handinnenfläche. Meine Füße versinken etwas im vom Regen matschigen Untergrund. Mit einem Lächeln durchschreite ich das Weizenfeld. Als ich jünger war, hatte ich immer mit meinem großen Bruder hier gespielt. Und immer, wenn jemand kam und sagte, dass es nicht erlaubt war, liefen wir. Liefen zu der alten Scheune, die schon halb verfallen war und seit Jahren leer stand. Wir griffen durch die zerbrochene Fensterscheibe und öffneten den kühlen Riegel aus Messing, der das Fenster versperrte. Wir kletterten hinein und in das Geheimversteck, das wir uns errichtet hatten. Decken und Kissen lagen auf dem Boden, in die wir uns einmummelten, wenn wir uns stundenlang Geschichten erzählten. Er versuchte immer, mit seinen Geistergeschichten zu ängstigen, was er ums ein oder andere Mal auch geschafft hatte. Das musste ich zugeben.


Das war Freiheit gewesen!


Irgendwann hatte er dann seine erste Freundin. Mit ihrem goldblonden Haar und den blauen Augen sah sie wie ein Engel aus. Ich habe sie gehasst. 


Sie hat ihn mir weggenommen. Danach unternahmen wir kaum noch etwas. Wenn ich ins Geheimversteck ging, dann allein. Aber es war trostlos. Die einzelne Energiesparlampe, die von der Decke hing und flackerte, wenn man sie anschaltete, schien mich zu verhöhnen.


Und so verbrachte ich meine Abende allein, während das Licht der Straßenlaterne vor meinem Fenster in mein Zimmer schien.


Dann hatte er den Autounfall. Fahrerflucht. Mein Bruder, mein geliebter Brillenträger starb, während seine Freundin, die auf dem Beifahrersitz saß, mit ein paar Schrammen und blauen Flecken überlebte. Oh, wie ich sie hasste.


Ich wünschte, es hätte eine Überwachungskamera gegeben. Dann wüsste ich, wer mir meinen Bruder entrissen hatte.


Und auch, wenn wir in den letzten Monaten vor seinem Tod kaum noch miteinander zu tun hatten, war ich so traurig, dass ich mich wochenlang in meinem Zimmer verschanzt hatte. Einzig bei seiner Beerdigung kam ich hinaus. Ich warf eine einzelne Mohnblume in sein Grab. Es war seine Lieblingsblume gewesen. Nun ist sie auch meine.


Auch, wenn ich mittlerweile gelernt habe, mit dem Verlust umzugehen und nicht mehr jedes Mal zu weinen beginne, wenn ich an ihn denke, fühle ich eine Leere in mir. Immer, wenn ich an diese Tage zurückdachte, fühlte ich diese Leere. Und ein kleines bisschen Freude.


Ein Nachhall des Glücks, das wir damals hatten. 



~Eria

Zehn?! Los geht's!Where stories live. Discover now