Talea

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Verstört und schweißgebadet wachte Talea auf. Es dauerte einige Minuten, bis sich ihre Augen an die plötzlich eintretende Dunkelheit gewöhnt hatten und sie realisierte, dass sie sich in ihrem Zimmer und auf ihrem Bett befand. Ihr Herzschlag beruhigte sich und fing wieder an, in einem gleichmäßigen Takt zu schlagen.

Sie hatte abermals von dem Jungen geträumt. Den Unheilbringer, wie sie ihn mittlerweile nannte. Bereits seit vielen Nächten war er ein fester Bestandteil ihrer Träume und sorgte dafür, dass ihre Schlafperioden deutlich kürzer und unruhiger wurden.

Langsam richtete Talea sich mit ihrem verkrampften Rücken Stück für Stück auf, rollte ihre Schultern, so wie sie es immer machte um das versteifte Gefühl loszuwerden, und blickte anschließend auf den Wecker, der sich neben ihr auf dem kleinen Nachttisch befand. Schwungvoll ließ sie sich wieder auf das Bett fallen, zog die Decke an sich und ignorierte das von ihrem Schweiß durchtränkte Kissenbezug. Drei Uhr nachts, das war eindeutig ein neuer Rekord. Ein ziemlich kräftezehrender Rekord. Sie war sich sicher, dass sie nun wieder kein Auge zu tun würde, so war es in den vergangenen Wochen immer der Fall gewesen.

Als der ganze Spuk begonnen hatte, tauchte er nur in unregelmäßigen Abständen in ihren Träumen auf, dann staffelte sich dies zu alle paar Tage und seit letztem Monat war sie schon dankbar dafür, wenn sie wenigstens einmal in der Woche von ihrem schrillen Weckerton, anstatt von ihren Alpträumen aus dem Schlaf gerissen wurde.

Genervt blickte Talea auf die Zimmerdecke, welche zur Hälfte von dem hellgelben Mondlicht, das durch ihr Fenster drang, beleuchtet wurde. Ein kleiner Lichtfleck in der sonst unbewegten Dunkelheit. Talea wünschte sich, sie könnte den ganzen weiteren Tag so daliegen, regungslos in ihrer weichen Bettdecke eingehüllt, den Blick einfach nur nach oben gerichtet. Ihr grauste es jetzt schon vor dem Test, der sie in genau sieben Stunden erwarten würde. Ein Test über das Thema französische Revolution, dessen Note vierzig Prozent der Gesamtnote ausmachen würde. Die vergangenen Geschichtsklausuren in diesem Halbjahr hatte sie vollkommen in den Sand gesetzt, weshalb sie gestern vor dem Schlafengehen inständig gehofft hatte, dass sie den Test zumindest ausgeschlafen und erholt antreten könnte. Natürlich hatten ihre Träume ihr wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht, dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.

Es war sonnig gewesen und Talea hatte sich auf einem endlos erscheinenden Feld befunden, weit entfernt vom grauen, ihr verhassten Stadtleben. Vor ihr hatte sich ein breiter Weg aufgetan und sie war gerade dabei gewesen, diesen voller Neugierde zu betreten, als neben ihr urplötzlich, wie aus dem Nichts, dieser Kerl auftauchte. Er hatte sich nicht bewegt, keinen Ton von sich gegeben und sie nur mit einem leeren Blick angestarrt, den sie mit zusammengekniffenen Lippen kurz erwidert hatte. Wie immer war er mehr eine beobachtende Instanz gewesen, als ein aktiver Handelnder, doch immer wenn er in ihren Träumen erschien, wandelte sich jeder noch so schöne Traum in ein Horrorszenario um. So wie auch dieses Mal. Der Weg verschwand wieder unter einem dichten Teppich aus Gras, stattdessen zog ein starker Wind auf, welcher Talea nach vorne trieb. Anfänglich war ihr das nur recht gewesen, da sie sich so schnell wie nur möglich von diesem seltsamen Burschen entfernen wollte. Doch plötzlich hatte sie Erhebungen unter ihren Füßen gespürt, große, steinharte Erhebungen, die sich, je weiter sie gekommen war, mit einer immer stärker werdenden Kraft gegen ihre Fußballen gedrückt hatten. Dazu kam, dass das Gras mit jedem ihrer Schritte begann sich weiter aufzulösen, bis Talea schließlich erkannte, worauf sie sich befand. Auf einem unnatürlich riesigen Pferdeskelett.

Die restliche Nacht verbrachte Talea damit, sich über auflösende Felder, überdimesional große Pferde und insbesondere den mysteriösen, immer leer dreinblickenden Beobachter den Kopf zu zerbrechen. Doch je länger sie über die jüngsten Traumgeschehnisse nachdachte, desto mehr entglitten ihr die klaren Konturen der Bilder. Sie wurden unschärfer und entschwanden nach und nach aus ihrem inneren Blickfeld, bis sie lediglich ein unwohles Gefühl, gefolgt von einer immensen Müdigkeit zurückließen.

Seelenjagd | #IceSplinters18| #bookawardflWo Geschichten leben. Entdecke jetzt