Cara

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Mit einem schlechten Gewissen trug Cara eine weitere Schicht ihres dunkelroten Lippenstiftes auf. Ihr war klar bewusst, was sie am vorherigen Tag getan hatte. Schon seit dem gestrigen Arbeit plagten sie deswegen Schuldgefühle und in der Schule hatte sie Talea, die glücklicherweise von alldem nichts mitbekommen zu haben schien, nicht in die Augen blicken können. Sie hatte sich danach mehrere Male ins Gedächtnis gerufen, dass sie sich alles andere als wie eine beste Freundin verhielt, doch letztendlich hatte die bitterböse, verführerische Stimme in ihrem Kopf den Sieg errungen. Es war ihre große Möglichkeit, eine Chance, die sich Cara nicht entgehen lassen konnte.

Schnell schlüpfte Cara in ihre enge Röhrenjeans und begutachtete sich zum neunten Mal an diesem Abend im Spiegel. Ihre Haare waren offen, voluminös wie immer und leicht gewellt, ihr Gesicht wurde durch die dezente Schminke perfekt in Szene gesetzt. Nur die dunkelrote Lippenfarbe stach deutlich hervor, was natürlich beabsichtigt war. Auch ihr figurbetontes Outfit mit dem enganliegenden, schwarzen T-Shirt in Kombination mit der Röhrenjeans hob Caras natürlichen Vorzüge, wie ihre dünne Taille und ihren meterlangen Beine, hervor. Simpel, weiblich, aber nicht nuttig, so wie sie mochte. Zufrieden nahm sie ihre Handtasche und warf noch einmal einen Blick auf ihr Handy. Keine neuen Nachrichten. Schnell versendete sie noch eine Nachricht mit dem Inhalt Bin ready, warte vor dem Dönerladen wie ausgemacht und zog sich ihre Jacke über.

»Bin noch verabredet, kann etwas später werden«, rief sie ihren Eltern zu, als sie sich im Hausflur die Schuhe anzog. Rasch schloss sie die Haustür hinter sich, um sich das ewige Gemecker ihrer Mutter nicht anhören zu müssen, und eilte zu der nächsten Bahnhaltestelle. Bis zum Dönerladen im Stadtzentrum waren es nur drei Haltestellen, sie sollte also pünktlich zum Treffpunkt erscheinen, vorausgesetzt die Bahn verspätete sich nicht.

Frierend setzte sich Cara auf einen der freien Warteplätze und beobachtete, wie ihr Atem weiße Wölkchen in der Luft entstehen ließ. Bei den kalten Temperaturen war sie mit einem T-Shirt eindeutig zu spärlich bekleidet, aber als sie zuhause ihre Vielzahl an Pullovern anprobiert hatte, kam ihr zu sehr das Bild eines Müllsacks auf, weshalb sie sich letzten Endes gegen den Komfort und für das Aussehen entschieden hatte. Sie hatten ohnehin vor sich im Warmen einen Film anzuschauen, und in der Zwischenzeit würde es Cara schon schaffen die Zähne zusammenzubeißen.

Endlich fuhr die Bahn ein, mit zwei Minuten Verspätung. Üblicherweise legte Cara keinen Wert auf Pünktlichkeit, aber heute sollte alles tadellos verlaufen, schließlich wusste sie nicht wann und ob sie jemals wieder so eine Gelegenheit erhalten würde. Die Arme wärmend um sich geschlungen stieg Cara in die Bahn und hoffte inständig, nicht auf Talea zu treffen. Sie würde garantiert wissen wollen, weshalb sich Cara um die späte Stunde noch draußen herumtrieb und in der Eile war sie eine schlechte Lügnerin. Schnell verschaffte sie sich einen Überblick über die Insassen der Bahn und atmete erleichtert aus. Kein Mädchen mit langem roten Haar und einem zu großen Mantel in Sicht.

Zehn Minuten später stand Cara vor der vereinbarten Dönerbude und blickte nervös auf ihre Armbanduhr. Jetzt wusste sie, wie sich ihre Freunde fühlen mussten wenn sie mal wieder zu spät kam. Cara gefielen ihre neuartigen Gefühle nicht. Sie konnte Nervosität und Ungewissheit nicht ausstehen, doch diese schienen heute ihre festgefahrenen, widerspenstigen Begleiter zu sein.

Mit den Zähnen klappernd versuchte Cara ihre Jacke zusammenzuhalten. So langsam bereute sie die Entscheidung eine Jacke gewählt zu haben, die nicht dafür gedacht war warm zu halten und aus diesem Grund keinen Reißverschluss oder Knöpfe besaß. Trotz ihrer Bemühungen wehte der kühle Wind erbarmungslos durch die offenen Stellen ihrer Jacke und legte sich eiskalt auf die nackten Stellen ihrer Arme.

Die Sekunden verstrichen, aus Sekunden wurden Minuten und aus Minuten wurde eine Viertelstunde. Das kann doch nicht wahr sein, wofür hält er sich! Wütend ballte Cara ihre Hände zu Fäusten und vergrub sie in ihrer Jackentasche. Ihre künstlichen Fingernägel bohrten sich dabei schmerzhaft in ihr Fleisch, aber das kümmerte sie in dem Moment wenig. Sie hatte noch nie auf jemanden warten müssen, denn für gewöhnlich war sie diejenige, auf die gewartet werden musste. Missmutig hielt sie weiterhin Ausschau nach einen komplett in schwarz gekleideten Jungen, doch an ihr liefen nur partywütige Frauen in hochhackigen Schuhen und angetrunkene Männer vorbei. Der angenehmste Treffpunkt war es nicht, das nächste Mal mussten sie dringend einen anderen Ort auswählen. Wenn es überhaupt ein erstes Mal geben sollte.

Weitere zehn Minuten vergingen wie im Schneckentempo. So langsam hatte Cara die Befürchtung am eigenen Leib erleben zu müssen, wie es sich anfühlte versetzt zu werden. Das hast du nun davon, dass du Zettel an dich reißt die eigentlich nicht für dich bestimmt sind, dachte sie sich verärgert und wusste in dem Moment nicht, auf wen sie wütender sein sollte. Langsam zählte sie Im Kopf bis zehn, und richtete sich daraufhin auf. Länger wollte sie nicht mehr warten, dreißig Minuten gingen eindeutig zu weit. So unpünktlich war selbst sie noch nie gewesen.

Gerade als Cara enttäuscht dem Treffpunkt den Rücken zukehrte und die Bahnhaltestelle ansteuerte, vernahm sie eine dunkle Männerstimme hinter sich. »Ist etwas später geworden.«

Sämtliche Wut wich mit einem Schlag aus ihren Adern, als Cara sich wieder umdrehte und in Liams schönes Gesicht blickte.

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Könnt ihr Caras Verhalten nachvollziehen? Und wie würdet ihr euch an ihrer Stelle verhalten?

Seelenjagd | #IceSplinters18| #bookawardflWo Geschichten leben. Entdecke jetzt