Liam

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Es war ein feiner Sonnenstrahl gewesen, der ihn geweckt hatte. Ein Funken Licht, der nicht zu der Atmosphäre gepasst, und Liam aus seinen finsteren Träumen bugsiert hatte. Knurrend hatte er sich im Bett gewälzt, sein Kissen auf sein Gesicht gepresst und wäre wahrscheinlich in dieser Position wieder eingeschlafen, wenn ihm seine für den heutigen Tag anstehende Aufgabe nicht wieder in den Sinn gekommen wäre.

Es handelte sich um eine der Aufgaben, welche ihm schon seit Jahren dazu antrieben überhaupt einen Fuß vor die Tür zu setzen. In seinem Leben passierte längst nichts spannendes, lebenswertes mehr. Die Mitmenschen um ihn herum gingen ihm mit ihrer Torheit gewaltig auf die Nerven und seine einzige Bezugsperson, wenn man seinen Vater so bezeichnen konnte, war immerfort unterwegs.

Mit einer Flut von selbstmotivierenden Worten hatte sich Liam mit mechanischen Bewegungen aus dem Bett bewegt und sich für seine neue Mission zurecht gemacht. Dabei war er bewusst anders vorgegangen, als er es eigentlich gewohnt war. Es war ihm zwar verhasst, an seinen eingeübten Mustern und Routinen auch nur einen Bruchteil zu verändern, doch Liam war eine Person, der sein Ziel jederzeit genau im Blick behielt und nur zu gut wusste, welche Karten man für dessen Realisierung ausspielen musste. Es war ein Quartett mit vier simplen Karten, nichts großartig weltbewegendes oder spektakuläres. Und dazu gehörte, so hatte er gelernt, ein makelloses Aussehen.

Aus diesem Grund hatte Liam sich dafür entschieden, fernab seiner gewöhnlichen Tagesroutine, einen Föhn nach der Dusche zu benutzen und seine bis zum Kinn reichenden, dunkelbraunen Haare anschließend mit einer dicken Stylingpaste in Form zu richten. Diese Prozedur hatte länger gedauert als geplant und da er mit dem Endergebnis nicht gänzlich zufrieden gewesen war, hatte er seine Haare schließlich doch mit einem Haargummi nach hinten gebunden.

Nachdem er sich angezogen und bemerkt hatte, dass der Kühlschrank mal wieder inhaltslos war und sein Magen wohl ebenfalls leer bleiben musste, hatte er sich mit dem Auto auf dem Weg gemacht.

Und nun stand er, zwar eine Viertelstunde zu spät, aber zielsicher wie immer und bereit, an der Eingangstür des Klassenzimmers und musste sich das Willkommen-Gerede von der Kunstlehrerin über sich ergehen lassen. Eine lästige Formsache, die er als ziemlich überflüssig empfand. Hinzu kamen die aufdringlichen Blicke der Mädchen, die allesamt auf ihm klebten und mit hungriger Begierde jeden Zentimenter seines Körpers abtasteten. Zwar war er so viel Aufmerksamkeit, insbesondere von der weiblichen Seite, gewohnt, dennoch reagierte sein Inneres in solchen Situationen immerzu mit Abscheu. Es war die Leichtgläubigkeit der Menschen, welche ihn anekelte. Wie konnte man sich nur so vom Äußeren blenden lassen?

Glücklicherweise bemerkte die Lehrerin seinen aufkommenden Unmut schnell und wies ihm seinen Sitzplatz zu. Immer noch von allen Seiten gemustert und ohne ein Wort zu sagen, schlenderte er zu seinem Platz.

Liam brauchte keine Sekunde um zu erkennen, um wen es sich bei seiner neuen Sitznachbarin handelte. Selbst ohne die kleinste Sehfähigkeit hätte er ihre Aura unter tausenden von anderen entnommen. Ein kräftiges, strahlendes Orange mit einem Hauch von dunklem Magenta, dazu die mit Wärme durchtränkte, deutlich spürbare Energie, die sie ausstrahlte. Es war sie, darin bestand kein Zweifel. Wenn sich Liam auf etwas verlassen konnte, dann war es sein Gespür, seine untrügliche Wahrnehmung. Zum ersten Mal an diesem Tag umspielte ein kleines, heimtückisches Lächeln seine Lippen. Noch einfacher hätten sie es ihm gar nicht machen können.

»Nun vergleichen wir die Zwischenergebnisse«, sagte die Lehrerin, die laut dem Stundenplan von Liam Frau Winfield hieß, und befestigte mit einigen Magneten ein leeres Plakat an der Tafel. »Diese werden wir dann schriftlich hierauf festhalten. Ja Jennifer, du kannst gerne anfangen.«

»Mein Ziel ist es, eines Tages nach Afrika zu reisen und bei dem Aufbau einer Schuleinrichtung zu helfen«, begann Jennifer, ein Mädchen mit zwei kurzen Zöpfen und einer auffällig breiten Brille im Gesicht. Sie war bestimmt die Sorte Schülerin, die auf jede Frage eine direkte Antwort parat hatte und sich altklug nach den Hausaufgaben erkundigte, wenn keine genannt wurden. »Ich habe dieses Jahr angefangen für den Flug sowie für die Unterkunft zu sparen. Meine Eltern haben nicht viel Geld, aber ich versuche einfach so wenig wie möglich für materielle Dinge auszugeben. Nach der Schulzeit soll es direkt losgehen.«

Frau Winfield schrieb Afrikareise und Schulaufbau auf das Plakat und nickte zufrieden. »Wer möchte uns noch seine Zukunftspläne vorstellen? Cara?«

»Ich bin derzeit auch am Geld sparen.« Das Mädchen in der letzten Reihe machte eine kleine Sprechpause und grinste breit. »Aber nicht für eine Reise, sondern für meinen Führerschein,« fuhr sie fort. »Mein Ziel für die baldige Zeit ist es, genug Geld aufzutreiben und die Prüfungen mit Bravour zu meistern. Einen eigenen Führerschein und ein eigenes Auto, das wäre schon der hammer!«

Liam war nicht entgangen, dass Talea die restliche Stunde damit verbrachte, verkrampft auf die leere Seite ihres Schreibblockes zu starren. Ob es an ihm, oder dem Unterrichtsgeschehen lag, vermag er nicht zu sagen. Seitdem er sich zu ihr gesetzt hatte, hatte sie ihn keines Blickes gewürdigt, nicht einmal kurz angelächelt oder was man sonst für eine höfliche Geste machte, wenn man auf einen neuen Mitschüler traf. Lediglich als er sich an der Tür befand, hatte sie kurz zu ihm aufgeschaut, jedoch ihren Blick schnell wieder gesenkt. Auch im Unterricht beteiligte sie sich nicht, sondern hielt sich bedeckt. So saßen sie schweigend nebeneinander und Liam ließ wenig angeregt die unzähligen Berichte über schon lang gehegte Vorsätze und Zielsetzungen über sich ergehen. Sollte es sich nicht um Kunstunterricht handeln?

Bevor das erlösende Schellen ertönte, verkündetet Frau Winfield die Hausaufgabe für die nächste Unterrichtsstunde. »Bis nächste Woche arbeitet ihr in Zweierteams an der künstlerischen Gestaltung eurer Ziele«, erklärte sie. »Tauscht euch über eure Ideen aus und entwerft gemeinsam zwei unterschiedliche Zeichnungen, auf denen eure Zielvorstellungen gut zur Geltung kommen.«

Augenblicklich war die Konzentrationsphase beendet und lautstarkes Gemurmel über mögliche Zusammenstellungen und Konstruktionen der Zweierteams ertönte aus allen Ecken. Der Tonfall von Winfield wurde strenger. »Ihr sollt dabei die Zeichentechniken, die wir in der letzten Stunde behandelt haben verwenden. Das Endergebnis wird anschließend benotet und einen Teil der Gesamtnote ausmachen.«

Der Lärmpegel der Nebengeräusche sank hörbar nach dem letzten Satz.

Frau Winfield blickte durch die Reihen und zählte die anwesenden Schüler. »Jeder bildet mit seinem aktuellen Sitznachbarn das Zweierteam«, beschloss sie und beendete mit diesen Worten den Unterricht.

Liam schielte unauffällig zu Talea rüber. Sie packte soeben eilig ihre Sachen in die Tasche und sah alles andere als zufrieden aus. Ob sie mit der Entscheidung von Frau Winfield glücklich war oder nicht, konnte ihm aber letztendlich egal sein, denn besser hätte es für ihn nicht laufen können. Seine erste Schulstunde seit langem und schon hatte das Schicksal ihm zugunsten agiert.

»Na dann auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte er und löste damit aus, dass Talea ihre Zeichenmappe fallen ließ und dessen Inhalt sich auf dem Boden zerstreute. Rasch sammelte sie ihre Bilder wieder ein, und legte sie hektisch zurück in ihre Mappe. Diese presste sie anschließend wie ein Schutzschild an ihre Brust.

»Ja genau. Ich heiße übrigens Talea«, stellte sie sich murmelnd vor und strich sich eine Strähne ihres roten Haares hinters Ohr.

»Ich heiße Liam.«

»Freut mich.«

Etwas zögerlich blickte Talea ihn an und reichte ihm die Hand hin, nur um sie danach wieder schnell zurückzuziehen und sich mit einem kurzen Winken zu verabschieden. Danach überreichte sie Frau Winfield ein großes Blatt Papier und verließ mit dem dunkelhaarigen Mädchen aus der letzten Reihe an der Seite fluchtartig das Klassenzimmer.

Liam schulterte seinen Rucksack und wollte soeben ebenfalls aus dem Klassenzimmer gehen, da trat Frau Winfield neben ihn.

»Hier hast du noch eine Liste mit Utensilien, die du dir bitte bis zur nächsten Stunde angeschafft haben solltest«, sagte sie, und hielt Liam zwei Zettel vor die Nase. »Auf dem anderen Blatt findest du die Themeninhalte für die kommende Zeit.«

Liam nickte langsam und verstaute die Zettel in seiner Jackentasche.

»Hast du an deiner letzten Schule ebenfalls den Kunst Leistungskurs besucht?«, wollte Frau Winfield wissen und damit einen weiteren Gesprächsversuch starten.

»Nein«, antwortete Liam knapp, verließ ohne sich zu verabschieden das Klassenzimmer und ließ eine sichtlich empörte Lehrerin hinter sich. 

Seelenjagd | #IceSplinters18| #bookawardflWo Geschichten leben. Entdecke jetzt