Talea

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Taleas Blick fiel sofort auf den neuen Schreibtisch, als sie ihr Zimmer betrat. Direkt neben ihrem überladenen Bücherschrank, vor dem großen Zimmerfenster stand er. Er hatte mehr Schubladen und Fächer an den Seiten und war vor allem viele größer als ihr alter Tisch. Bei ihm hatte sie immer das Problem gehabt, dass ihr großer Zeichenblock nicht komplett auf die Tischplatte gepasst hatte und sie einen Teil ihrer ganzen Malutensilien auf den Boden platzieren musste, um noch genug Fläche auf dem Tisch zu haben. Dieses Problem würde nun der Vergangenheit angehören, trotzdem machte Talea ein grimmiges Gesicht.

»Dad«, rief sie verärgert und lief ins Wohnzimmer, in dem ihr Vater gerade auf dem uralten braunen Sessel, ein Erbstück von seiner Großmutter, saß und die Post sortierte. Vor ihm auf dem kleinen, ebenfalls antik aussehenden Wohnzimmertischen lag ein unüberschaubarer Haufen mit Briefumschlägen, von denen manche schon zu einem Stapel angeordnet waren. Taleas Vater war ein begeisterter Briefschreiber, der nur wenig von den modernen Kommunikationswegen hielt und in jedem ihrer gemeinsamen Urlaube neue Brieffreundschaften schloss.

»Dad, du konntest es mal wieder nicht lassen!«

Ihr Vater blickte auf und warf Talea lächelnd eine Postkarte zu. »Die ist für dich, von Tante Judy.«

Mit einer flinken Bewegung fing Talea die Karte auf und trat auf ihren Vater zu. »Ich habe dir doch schon hunderttausend Mal gesagt, dass du mich nicht andauernd beschenken musst. Wann verstehst du es denn endlich?«

Den Unschuldslamm spielend machte ihr Vater ein fragendes Gesicht. »Ich weiß wirklich überhaupt nicht was du meinst«, sagte er ruhig. »Aber falls du auf den neuen Schreibtisch andeutest, der ist kein Geschenk, sondern eine notwendige Investition.«

Taleas Gesichtszüge wurden prompt weicher.

»Dad«, sagte sie, dieses Mal in einem sanfteren Ton. Sie wusste, dass ihr Vater es nur gut meinte. »Du arbeitest so hart für dein Geld, das brauchst du wirklich nicht direkt wieder aus dem Fenster zu werfen.«

»Was ich für eine sinnvolle Investition halte, ist niemals aus dem Fenster geworfenes Geld«, erwiderte ihr Vater und rückte sich seine Brille zurecht. »Lächele doch mal, jetzt kannst du endlich auf einem vernünftigen Tisch zeichnen.«

»Und was ist mit dem neuen Rucksack, oder den überteuerten Aquarellfarben, die du mir letztens gekauft hast? Waren sie auch eine sinnvolle Investition?«, fragte Talea, obwohl sie die Antwort ihres Vaters bereits kannte.

»Ja waren sie. Talea ich brauche deine Zustimmung nicht, wenn ich mich dafür entscheide dir eine kleine Freude zu bereiten.«

Talea seufzte. Ihr war klar, von wem sie ihre Sturheit geerbt hatte.

»Wie war es denn in der Schule?«, wollte ihr Vater wissen.

»Gut«, murmelte Talea. Auf diese Frage hatte sie meistens keine umfangreiche Antwort. Es passierte nur selten etwas nennenswertes hinter den vier Schulmauern.

»Wir haben einen neuen Schüler im Jahrgang«, fiel ihr ein. »Liam heißt er. Wie aus dem Nichts ist er heute im Kunstunterricht aufgetaucht. Natürlich wurde ich direkt mit ihm in ein Zweierteam für ein Projekt gepackt.«

»Du scheinst darüber ja nicht allzu begeistert zu sein«, bemerkte Taleas Vater, doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben noch kaum miteinander geredet, aber ich finde ihn irgendwie seltsam.«

Nachdenklich setzte sich Talea auf eine der breiten Lehnen des Sessels und zog ihre Beine an sich heran. »Kennst du das, wenn du eine Person anschaust und eine innere Stimme dir sagt, dass du dich lieber von ihr fernhalten solltest?«

Taleas Vater überlegte kurz und strich sich dabei grübelnd über seine kurzen Barthaare am Kinn, eine typische Bewegung die er machte wenn er versuchte seine Erinnerungen anzukurbeln. Dann schien ihm etwas einzufallen.

Seelenjagd | #IceSplinters18| #bookawardflWo Geschichten leben. Entdecke jetzt