Kapitel 2.2

10 5 3
                                    

Stöhnend hob ich den Kopf vom kalten Boden. Mein Schädel dröhnte und ich spürte getrockneter Speichel an meinem Mundwickel kleben. Mein Geist war hellwach und dennoch zwang mich mein Körper wieder zum Hinlegen. Ich war wohl in Tränen eingeschlafen. Meine Augen richteten sich auf die Pendeluhr an der Wand. Es war erst zwei Uhr morgens. Tick Tack. In der Dunkelheit tastend suchte ich an einem Tisch nach Streichhölzern und einer Kerze. Bis zur Wand laufen und das grelle Licht anzuschalten, war mir  und meinen Augen zu anstrengend. Fündig, machte ich mich an die Arbeit und in Sekunden erschien eine kleine Flamme vor mir. Tick Tack.

 Ich rieb mir mit den Händen ins Gesicht und starrte in die Leere, als mir meine verdammte Situation wieder einfiel und Tränen sich wieder bildeten. Das durfte doch alles nicht wah sein!

Plötzlich blitzte das Gesicht eines kleinen Mädchens vor mir auf. Wie ein Schlag, der mein Gehirn k.o. schlug, ging mir ein Licht auf. Tick Tack. 

Ich schluckte. Es war riskant. Aber es war wohlgemerkt die einzige Lösung, die ich hatte. Die einzige. 

Ich hatte immer geglaubt, mit meinem Vater auf die See zu gehen. Ich glaubte, nein,  ich wusste es. Es war das einzige, was ich wusste, ja, wo ich mir zu hundert Prozent sicher war. Jedoch alleine. Nicht in Begleitung meines Vaters. Oder meines Bruders. Oder meiner Mutter. Oder Will. Dieses Wissen brachte mich zum Erschüttern. Wie konnte sich das alles nur so entwickeln? Seit  wann hatte das Fatum vor, mir den Boden von den Füßen zu reisen? Tick Tack. 

Das Fenster war auf kipp. Eine kühle Brise bereitete mir Gänsehaut, weshalb ich mich festumklammernd hin und her wiegte. War das denn wirklich die einzige Wahl? Ich schaute zu meinen etlichen Geschenken auf. Es war mir immer ein Rätsel, wo mein Vater war und wie er an die Sachen rangekommen ist. Wer diese Sachen herstellte und wie sie auf dem Markt kamen und verkauft wurden. Diese Welt war mir schon immer ein Rätsel und ich wollte sie schon immer mit eigenen Augen sehen.                                         

 "Jetzt hast du die Chance  dazu " , rief eine kleine Mädchenstimme. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Jetzt wusste ich es. Ja, jetzt war ich mir sicher. Die Glühbirne auf meinem Kopf schien derselben Meinung zu sein. Tick Tack. 

Ich würde nicht auf dem Boden hocken und zu sehen, was aus meinem Leben wurde. Tick Tack. 

Ich würde verdammt nochmal mein Leben selbst in die Hand nehmen und entscheiden, denn- Tick Tack

- wer kannte mich schon besser, als ich mich selbst?

 Tick Tack. 

Ich hielt die Kerze am Kranz und krabbelte zu meinem Kleiderschrank hin. Nach einer Ledertasche wühlend  vergriff ich mich in allem, was ich finden konnte. Ich brauchte nicht viel, um zu leben. Um zu Überleben. Mir war diese ganze Hygienesache und der ganze Kleiderwechsel sowas von auf die Nerven gegangen, dass ich jetzt froh sein kann, ihn endlich abzulegen. Ich verfluchte meinen Kleiderschrank und dessen Unordnung, auch wenn ich der Grund war. Er sah so aus, als hätten Piraten ein Schiff geplündert. Meine Hand streckte sich nur nach dem Nötigsten aus. Sie griff sich dicke Kleider und Wollpulover. Ich besaß leider zu wenig oder besser gesagt gar keine Hosen,- dieser Begriff existiert nicht im Wortschatz einer Lady- weil aber das Fliehen in einem Kleid nicht sehr praktisch war, fand ich mit etwas Glück Owens Stoffhosen- Ich packte eine Hose ein und zog eine weiter schnell über mein Kleid. Brüder waren also doch noch zu was nützlich.  Unterwäsche, Socken, Haarbürste... fehlte noch was? Ah! Jacke und Hut!

 Um nicht an Hunger oder Krankheiten zu sterben, beschloss ich so oder so aus einem Kasten so viele Goldmünzen wie möglich einzupacken. Schnell warf ich mich zu Boden, um unter dem Bett einen alten Dolch herauszufischen. Als ich ihn mit den Fingerspitzen spürte,  zog ich ihn an mich und wickelte ihn vorsichtig in einen Laken ein. Ohne dem Geld und dem Dolch war ich der Außenwelt auf so vielen Arten und Weisen schutzlos ausgeliefert.  Mein Blick glitt zu den Schätzen meines Vaters. Hastig erhob ich mich und stopfte den Schmuck und die Diamanten ein. Ich stellte mich vor dem Spiegel und verknotete meine Haare. Den Hut auf dem Kopf gesetzt, die Stiefel angezogen und die Jacke übergestreift, öffnete ich leise den Türgriff und sah mich ein letztes Mal um. Ich würde dieses Leben zurücklassen und ein neues beginnen.                  Ein neues nach meinen Prinzipien und Regeln. Meine Mundwinkel gingen unwillkürlich nach oben. Ich wusste, dass ich meiner Freiheit so nahe war, wie ich es niemals je zuvor im Wasser hätte sein können. Ich pustete die Kerze aus und das Licht erlosch. Danach schloss ich die Tür und schlich die Treppen hinunter. Ohne den Türen das Schlafzimmer meiner Eltern eines Blickes zu würdigen, begab ich mich in die Küche und klaute ein paar Äpfel und einen gefüllten Wasserbeutel. Voller Entschlossenheit schloss ich endgültig die Haustür und schritt zum Stall.                                                                                                                                                                                                     Beth schien meine Nähe zu wittern und gluckste aus ihrer Box heraus. Ein leises Wiehern entging ihr, worauf ich sofort den Zeigefinger am Mund hielt und ein "Psst" von mir gab. Ich öffnete langsam das Tor, schnappte mir meinen Zügel. Licht war nicht nötig, um mich zu vergewissern, wie ich Beth sattelte und aus dem Stall brachte. Ich schätze, meine heimlichen  nächtlichen Auswanderungen zum Wasser zahlten sich aus. Als ich fertig war, sprang ich förmlich auf Beth und streichelte sie kurz. 

Tick Tack.

Bevor ich mich dem Gehen zuwandte, drehte ich mich noch einmal um. Ich wusste, was ich da tat und wusste, wenn ich jetzt zurückgehen würde, dass ich nie wieder die sein werde, die ich immer werden wollte oder war. Ich musste es tun. Und das war auch richtig so. Ein kurzer Schmerz durchlief mich, als ich an all meine Freunde und meine Familie dachte. Will, Owen, Florella, meinen Vater und so viele mehr. Einen Abschiedsbrief bekamen sie nicht, denn kein Abschied war mein Anlass Wert. Ich war mir sicher, dass ich sie eines Tages vielleicht treffen würde. Aber meine Absicht lag darin, die Geliebten in meinem zweitem neuem Leben wiederzutreffen.  Ich schluckte. Tick Tack. Ich musste mich beruhigen. Das, was ich tat, war nötig. Und für meine Freiheit tat ich alles. Selbst wenn es bedeutete, schweigend die loszulassen, die ich am meisten liebte. Mit einem lautlosen Zeichen fing Beth an zu traben und ich ließ mich und mein altes ich in diesem Haus zurück.  

Tick Tack. 

FreedomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt