SH:
Der Himmel bezog sich gerade, als Watson und ich von einem Opernbesuch heimkehrten.
„Die Arie des ersten Akts aus Don Giovanni klingt mir immer noch in den Ohren", wandte ich mich draußen, auf dem glänzenden Kopfsteinpflaster, an meinen Freund. „Ein Meisterstück dramatischer Inszenierung."
„Sie müssen es ja wissen, Meister vieler Künste", erwiderte er mit ungewohnt spitzer Zunge und brachte mich innerlich zum Stutzen.
Vielleicht war ich deshalb so versessen darauf, das erstklassig interpretierte Stück zu hören, weil es mich an mein eigenes Leben erinnerte. Ihm haftete ein wenig von den Episoden an, in denen der Doktor und ich das Unheil in unserem Umfeld aufzuspüren versuchten. Und womöglich war die schon vor Tagen in Gang gekommene Entwicklung unseres Zusammenlebens, die bald darauf in einem großen Disput gipfeln sollte, dafür verantwortlich, dass die Ausdrucksstärke der Musik mich an jenem Abend mehr als an anderen berührte. Die Frage nach Ausprägung und Wert dieser Verbindung würde wesentlich davon bestimmt werden, wie es mit unserer Freundschaft weiterging.
Etliche Male schon war uns das Vergnügen zuteil geworden, gemeinsam Mozarts Werken zu lauschen. Und stets aufs Neue brachte vor allem mein Drängen den Genuss, uns ihnen für einige Stunden hinzugeben. Es war bestimmt nicht so, dass mein Freund ohne mich diese Art der Unterhaltung verschmäht hätte. Aber ein wesentlicher Aspekt der Rekursivität lag mit Sicherheit in dem reinen Wunsch, meine Begleitung zu stellen.
Obwohl, wenn ich es recht überdachte, hatte Watson mir gegenüber jedesmal gereizter gewirkt, wenn er mir in den zurückliegenden Wochen gegenübergetreten war und auch nicht mehr so häufig wie in den Jahren zuvor besonders erpicht erschienen, mit mir gemeinsam auszugehen.
Ich hatte Watson still beobachtet, seine vertrauten Züge, die mir viel erzählten. Aber sie schwiegen sich beharrlich aus, über die Ursache ihrer Neuerungen in seinem Wesen. Er war aufbrausender als zuvor und das war absonderlich, denn ich hatte ihn nicht geärgert. Jedenfalls nicht in der letzten Zeit und wenn doch, dann nicht mit einer Absicht dahinter.
Die eine oder andere weitere Änderung seiner üblichen Eigenarten war mir ebenfalls ins Auge gestochen. Der gute Doktor war irgendwie unnahbarer geworden. Abweisender. Und strikter. Und das hatten seine Gesten so klar veranschaulicht, dass ich bereits zu fürchten begonnen hatte, er würde mir und meinem Dasein in der bisherigen Form als Freund und Kollege entgleiten.
Ich hatte mich auf eine neue Erfahrung einlassen und mich auf eine fremdartige Suche begeben müssen, fernab einer für die Detektei relevanten. Auf die Suche nach unserem früher so unkomplizierten, beinahe symbiotischen Zusammenleben, das sich in ein diffiziles Lauern auf die Gemütsbewegungen des anderen verschoben hatte.
Wo war die Unbeschwertheit der alten Zeit geblieben? Üblicherweise definierte sich Freund Watson als die Geduld in Person. Und genau deshalb hatte ich diese Entwicklung mit Argusaugen verfolgt und war immer noch dabei, mir einen Reim auf das Abweichen von seiner geradlinigen Spur, die er gewöhnlich zog und unbeirrt abschritt, zu bilden.
Er war mir ein Rätsel geworden. Aber darauf, Rätsel zu untersuchen, war ich ja spezialisiert. Nur dieses Rätsel stand auf einem fremden Gebiet. Er war schließlich keiner von meinen Klienten. Und dabei behilflich sein, die Abweichung von seiner selbst gesetzten Norm zu analysieren, würde der pragmatische Doktor mir mit Sicherheit auch nicht.
Es durfte einfach nicht angehen, dass Watson sich so verändert haben sollte, befand ich. Ich brauchte ihn in seiner alten Präsenz kompromissloser Unterstützung. Umgeben von der verlässlichen Aura eines garantierten Treueversprechens, um unsere Gemeinschaft am Laufen zu halten. Sie war es, die mich antrieb, selbst die Stabilität aufzubringen, die kniffeligsten Verbrechen aufzulösen, die nach meinem kompletten Einsatz verlangten.
Ich hatte ihn gefragt, ob wir am Abend ausgehen wollen und er hatte doch tatsächlich gezögert, zuzusagen. Kaum spürbar mit sich gehadert, aber ich hatte es dennoch registriert. Für eine Sekunde war er im Garten des Zwiespaltes mit sich selbst gewesen. Ich hatte an seinem Gesichtsausdruck gesehen, dass er die Pforte geschlossen hielt. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich sicher davor warten sollen. Aber dieses passive Ausharren gelang mir nicht, es machte mich unwirsch. Also hatte ich aus Irritation forsch ein zweites Mal gefragt, bevor er es sich zu gründlich überlegen würde. Letzten Endes hatte er zugestimmt. Verhalten.
Genauso vorsichtig war seine Musterung meiner Miene von statten gegangen, die er selbst mit halb versteckter Besorgnis an mir vorgenommen hatte. Im Dunkeln, als der brokatene, mit Goldfäden gearbeitete Theatervorhang sich gehoben hatte und die letzten Nuance schimmernder Ausleuchtung der Bühne lediglich vom Strahl des Scheinwerfers ausgegangen war.
Als wir nun das gutbesuchte Royal Opera House verließen, dachte ich genau darüber nach, schwenkte dann aber bald um, in mir weniger befremdlicheres Territorium, als Freund Watsons neuerlich wechselhafte Befindlichkeiten. Ich sah mich eher in anderen Sparten, als in dieser und der seines Gefühlslebens, zu Hause. Berufsbedingt der Verbrechensbekämpfung immer auf den Fersen, verlor ich einen kurzen Gedanken daran, welche Auswirkung der einsetzende Wetterumschwung vom strahlenden Blau des Vortages zum trüben Regenschauer jenes Samstages darauf haben könnte, dass bedeutende Spuren an vermeintlichen Tatorten verwischt wurden.
Der Regen hatte den ganzen Tag sein Nass hinterlassen und ich stellte mir vor, ohne mit einer konkreten Ermittlung beauftragt zu sein, wie manch Polizeibeamter sich dadurch erschwerter Spurensuche ausgesetzt sähe.
Als ich mir dank eines aussagekräftigen Seitenblickes bewusst wurde, wie Watsons stilles Urteil darüber lautete, dass ich selbst bei einem Ausflug in kulturellen Höchstgenuss nicht aus meiner wachsamen Haut fahren konnte, leitete ich meine Konzentration wieder gezielt um, auf andere Dinge. Die, die uns tatsächlich und nicht nur hypothetisch umgaben. Und so registrierte ich auch, wie sich die Feuchtigkeit, und mit ihr die Kälte, allmählich in meine Kleider zu ziehen begann.
JW:
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Stufe um Stufe zu Schritt und Spur (Sherlock Holmes)
FanfictionEin Entzug. Und dazu, eine eher dramatische Schilderung von Holmes' und Watsons zwischenmenschlichem Durcheinander inmitten eines ermittlungstechnischen Miteinanders. Eine Entwicklung, geschildert aus wechselseitiger Perspektive. ...