Ohne Titel Teil 2

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SH:

Ich erklärte meinem Gefährten, in Ermangelung einer Alternative eines geeigneten Zeitvertreibs während unserer Heimfahrt durch verstopfte Straßen, den Zusammenhang zwischen seiner Gewohnheit, seinen eigenen Schirm rechts zu tragen und der Nichteinhaltung dieser Marotte am heutigen Abend. Als Watson in seine rechte Tasche greifen musste, um seine Handschuhe herauszuholen, hatte er den Schirm kurz in die linke Hand genommen. Dort streifte er etwas ungeschickt seine frische Schnittwunde, was ihn aber nicht aufzucken ließ, obwohl er nach meiner, wenn auch fachlich nicht so kompetenten wie seiner eigenen Einschätzung, sicher Anlass dazu gehabt hätte. Stattdessen hob er leicht die Mundwinkel und schüttelte kurz den Kopf, wie um über seine eigene Unbeholfenheit zu lächeln. Das unterstrich die Leichtigkeit, die in sein Gemüt zurückgefunden hatte.

Als wir Covent Garden verließen, war ich mit meiner Darlegung bereits am Ende angelangt. Eine Kleinigkeit in meinen Augen, umso leichter darauf zu schließen, je vertrauter einem das Gegenüber war. Für meinen Freund stellte sie allerdings eine jener verblüffenden Gedankenketten dar, derer ich zu Hauf offenbaren konnte. Zumindest staunte er darüber und ich freute mich daran.
Nun, ich gebe zu, dass mir die Eigenarten meines Mitbewohners die liebsten aller zu statuierenden Exempel meiner Methoden waren. Die eigentliche Herausforderung lag allerdings in fragwürdigen Abänderungen seiner Marotten und Gewohnheiten. So wie heute, wo er mir ein wenig zerstreut erschien. Und das wiederum war nur die Fortsetzung seiner gestrigen Übellaunigkeit, die mir noch genauso deutlich vor Augen stand, wie der schmutzige Zeitungsjunge, den ich jetzt weiter vorne die Ausbeute seiner Lektüre zählen sah.
Die gerade entzündeten Laternen, die wir streiften, enthüllten wenig von der abendlichen Realität dieses Stadtteiles. Wir fuhren durch eine Gegend, wo lautes Gewimmel aus üblem Gesindel billige Taschenspielertricks an den Mann zu bringen suchte. Die Menschen, die sich hinter den beleuchteten Fenstern ihrer Wohnungen eingefunden hatten, waren vermutlich froh, sich vor ihm in Sicherheit zu wiegen.

In der Baker Street angekommen, erwartete uns bereits Mrs. Hudson mit einem heißen Getränk in der einen und einem Briefumschlag in der anderen Hand. Außerdem hatte sie noch mahnende Worte auf den Lippen: "Klitschnass sind Sie beide, Sie werden sich noch erkälten. Geben Sie mir Fräcke und Zylinder, ich werde sie rasch zum Trocknen aufhängen. Nicht, dass ich den Ihren wieder triefend auf dem Polster vorfinde, Mr. Holmes!"
"Das war ein Notfall", erklärte ich mich und rechtfertigte damit die Episode vom letzten September, auf die sie anspielte. "Der zwiespältige Bursche rannte schneller wieder fort, als er gekommen war, und wenn ich mich mit dem Zurechtrücken der Kleider aufgehalten hätte, statt ihn zu beschatten, säße er jetzt nicht da, wo er hingehört. Und...", versuchte ich, verschwörerisch zu klingen, während mein erhobener Zeigefinger in ihre Richtung wies, „... Ihre Nächte wären weitaus unruhiger."
Doch Mrs. Hudson ließ sich nicht beirren.
"Ein Notfall, ja?", fragte sie. „Das könnten höchstens Sie behaupten, nicht wahr Doktor? Aber Sie werden sicher bald selbst einen Arzt brauchen, wenn Sie hier noch weiter in den nassen Sachen herumstehen. Aus den Kleidern, meine Herren, aber rasch!"
Wir begaben uns gefügig nach oben. Auf der achten Treppenstufe und somit außerhalb ihrer Hörweite angelangt, wisperte ich meinem Freund zu: "Da hören Sie es Watson, sie zetert immer noch. Und alles nur wegen Ihres Missgeschicks!"
"Nun, vielleicht war es so ungewohnt, dass zur Abwechslung einmal ich etwas verwüstet habe. Daher ihre Überreaktion", zischte er ungewohnt zänkisch zurück.
"Was soll denn das heißen? Ich verwüste nichts! Der Raum ist einfach zu klein, für all meine angesammelten Objekte. Aber sie geben dem Zimmer wenigstens eine persönliche wohnliche Note. Etwas, das Sie nicht leugnen können und doch sicher zu schätzen wissen."
Wir traten ein und standen dem beschriebenen Zusammenspiel aus Unordnung und Gemütlichkeit gegenüber. Ich wollte gerade damit fortfahren, Watson ein wenig zu sticheln, um vielleicht seinen Reaktionen etwas darüber zu entnehmen, was ihn so unausgeglichen machte, da antwortete er in einem Tonfall, der keinerlei wohlwollenden Klang mehr beherbergte: "Damit spielen Sie sicher auf so dekorative Gegenstände wie Schädel, Harpunen und unansehnliche Bilder von weltweit gesuchten Schwerverbrechern an."
Ich begegnete seinem hörbaren Unmut mit dem Erinnern an die vor uns liegende Aufgabe.
"Nun, auch meine Korrespondenz ist akkurat geheftet, was mich zu so später Stunde zu der Frage bringt, was es mit diesem Brief auf sich hat. Interesse? Oder wollen Sie vielleicht gleich, getreu Ihrer merkwürdigen Gewohnheit in letzter Zeit, nochmal das Haus verlassen und... im Regen hin und her spazieren?"
Augenrollen. Kopfschütteln.
"Akkurat geheftet?", empörte er sich dann, wodurch er sich gleichzeitig um die Beantwortung meiner spitzen Bemerkung zu drücken versuchte. „Da drüben stecken mehr als genug klingendurchstochene Schreiben aus den letzten Jahr fest, deren verzweifelte Verfasser nicht mal die Freundlichkeit einer höflichen Absage genossen haben. Und wenn die Wände des Zimmers immer näher rücken, können Sie gerne etwas von dem Plunder darin entsorgen!", erzürnte sich mein Mitbewohner weiter und fegte eine halbzerschnittene Zeitung vom Sessel, bevor er sich selbst hineinfallen ließ. "Dann wäre auch gleich mehr Platz für meine persönliche Note", ergänzte Watson noch kühl.
Ich hatte keine Ahnung, wie ernst es ihm damit genau war. Deshalb beschloss ich, nicht näher darauf einzugehen. Aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine miese Laune zurückgekehrt war.
Wie es unserer Gewohnheit entsprach, hatten wir des anderen Bemerkungen übernommen und die Fäden fortgesponnen. Wie es ganz und gar nicht meine Gewohnheit war, begann ich, tiefer über die Flapsigkeit nachzudenken und mich zu fragen, wann und warum wir uns so oft dieser Art der Dialogführung bedienten und ob sie nicht vielleicht die Funktion erfüllte, ernster zu betrachtende Aussagen zu ersetzen.
Eine davon war mir in unliebsamer Erinnerung geblieben. „Vielleicht sind wir einfach in einem Alter, in dem man das Leben neu bewerten sollte." Watson hatte sie vorhin wie beiläufig getätigt, im Zusammenhang mit unserem Opernbesuch, zu dem wir gerade aufgebrochen waren. Ich hatte so getan, als hätte ich nichts dazu zu sagen. Aber überdenken tat ich sie, als hätte ich ein Seminar darüber abzuhalten.

JW:

Stufe um Stufe zu Schritt und Spur (Sherlock Holmes)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt