SH:
Ich merkte, dass ich auf meiner Unterlippe herumzukauen begonnen hatte und unterband es sofort, als der Arzt sich umdrehte. Vieles ging mir durch den Kopf, als er sich mit mir im Zimmer aufhielt. Mittlerweile hatte er mich vollends aus dem Konzept gebracht. Seine kontrollierbare Verlässlichkeit war einem unvorhersehbaren Betätigen auf einem neuen Aktionsfeld, bis hin zur diesem rabiaten Ausbruch, gewichen. An mir hatten seine Finger nicht so behutsam angesetzt, wie sie es nun an der Schreibmaschine taten. Er wusste es selbst und hatte versucht, mit neuen fürsorglichen Handgriffen auszugleichen, was seine Fäuste angerichtet hatten. Wie hätte er es auch unversucht lassen können? Watson besaß jede Menge Harmoniebestreben. Und noch mehr Ehrgefühl.
Seine Fürsorge nutzte mir auch nichts mehr. Er hatte mir wehgetan. Und ich hatte es zugelassen. Er verletzte mich nicht nur Macht seiner Schlagkraft. Mit seiner Unbeherrschtheit, seinem Druck, mir zu nahe zu kommen. Und mich in der Unart, in meine Laster zu flüchten, damit begradigen zu wollen. Und es waren nicht die sichtbaren Verwundungen, all die Blutergüsse, die sich schillernd auf unseren Leibern färbten, die konnten wir tapfer ertragen. Sondern es waren die inneren Wunden, die wir zusammen mit vereinten Kräften aufgerissen hatten. Blind vor Zorn, voll von mangelnder Impulskontrolle, hatte das Vertrauen gelitten.
Ich konnte es noch immer nicht ertragen, ihn lange zu inspizieren. So gebrochen, wie er aussah.
Unsere affektbeladende Prügelei hatte ihn mitgenommen, das wollte ich gar nicht bestreiten.
Aber ich war bisher nicht in der Lage gewesen, seiner stummen Bitte um Buße nachzukommen. Noch nicht. Ich würde dem Verzeihen erst später Ausdruck verleihen, wenn das Entsetzen über die Dimension, die der Schandfleck der Kollision in unserer Freundschaft hinterlassen hatte, den Schmerz in mir nicht mehr bestimmte.
Ich wusste, dass man uns beide für athletisch hielt, wir gehörten auch etwa derselben Gewichtsklasse an, aber Mann gegen Mann besaß ich die höhere Schlagkraft. In unserem Zweikampf wäre ich der Stärkere gewesen, wenn ich gewollt hätte. Vielmehr wollte ich aber, dass die Enttäuschung aufhörte, mich zu lenken. Über ihn. Über mich. Über uns.
Der Doktor hätte mich unter anderen Umständen ganz sicher wie üblich traktiert. In seiner nie abgelegten Eigenschaft als Arzt hätte er wohl gefragt: „Sind Sie verletzt?"
„Nicht der Rede wert", antwortete ich gewöhnlich.
„Dann lassen Sie mich mal einen Blick darauf werfen!", hätte sein lange geschultes Dagegenhalten auf meinen flüchtigen Versuch, ihm auszuweichen, wahrscheinlich auch diesmal gelautet.
Und vielleicht war seine ständige Observation genau das, was ich aushalten musste, damit er mich weiterhin auszuhalten bereit war.
Watson zählte zu dem Typus Mann, der sich nicht so leicht hinters Licht führen ließ. Man konnte auf seinen Ehrgeiz, die Wahrheit zu erkennen und sie in Recht und Ordnung zu führen, zählen. Aber heute war mein Freund kaum noch ein Schatten seiner selbst. Kraftlos, wie er dasaß, versunken in seiner immerwährenden Passion, mit jeder gerichteten Berührung seiner Fingerspitzen auf auserwählten Tasten ein neues Werk zu Papier zu bringen. Die Abschriften seiner Geschichten waren mehr als einmal meinem neckenden Hohn ausgesetzt gewesen. Würde diesmal noch Spielraum dafür bleiben? Oder war es der Ernst, der von nun an unser ständiger Begleiter sein würde?
Halt! Vielleicht konnte ich Hoffnung schöpfen und es war noch nicht alles verloren. Ich sah sein verstecktes Schmunzeln, ein klitzekleines Zucken huschte über sein Gesicht, als ich ihm in einer verzeihenden Geste das auf seinem ausgekühlten Leib bescherte, was die Romantiker als verloren geglaubte Herzenswärme betitelten. Mir sollte es recht sein, dass Watson auch etwas davon in sich suchte. Immer bemüht, mir nicht zu viel davon preiszugeben. Denn das Zufriedenstellen des Verlangens danach, half diesmal nicht unwesentlich dabei, den Auftakt zu unserer Konversation zu bilden.
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Stufe um Stufe zu Schritt und Spur (Sherlock Holmes)
أدب الهواةEin Entzug. Und dazu, eine eher dramatische Schilderung von Holmes' und Watsons zwischenmenschlichem Durcheinander inmitten eines ermittlungstechnischen Miteinanders. Eine Entwicklung, geschildert aus wechselseitiger Perspektive. ...