SH:
„Was soll das Watson, warum sagen Sie das?", fuhr ich meinem Freund daraufhin in der Aufforderung an, sich und seine wahren Absichten zu erklären, anstatt zu versuchen, mir etwas vorzugaukeln.
Ein eigentümlicher Ausdruck legte sich über sein Gesicht, eine Mischung aus Vorsicht und Verwirrung.
„So wie Sie aussehen...."
„Lassen Sie mich damit in Ruhe! Ich habe Kopfschmerzen", log ich.
Obwohl, so ganz gelogen war es eigentlich nicht. Ich war ein Wrack. Ich war müde, alles tat mir weh und mein Antrieb war verflogen. Ohne all das konnte ich nicht simulieren. Aber das war auch nicht nötig. Natürlich nicht. Denn Watson blieb hartnäckig auf der Suche nach der Wahrheit, die er für sich finden wollte. Ihn schockte nichts mehr. Er hatte alles von mir gesehen. Meine Tiefen, meine Höhenflüge, meine ausbrechenden Launen und meine, unter Verschluss gehaltenen, Empfindungen. Er hatte alles ausgehalten, oft in einer stoischen Gelassenheit, hatte er zielstrebig damit weiter gemacht, mir die Seelenruhe zurückzubringen, wenn sie verlorengegangen war. Und er war jedes Mal geblieben.
„Sie sind krank!", hörte ich ihn jetzt aus einer unumkehrbaren Überzeugung heraus behaupten.
„Ich bin nicht krank."
Die Luft wurde dünner. Er war gefährlich nah dran, zu mir durchzubrechen.
„Oh doch, mein Lieber. Und ich bin dafür zuständig, Ende!" Aber es war nicht das Ende, er legte nur eine Gesprächspause ein. Ich fand seine Hand auf meiner Schulter, als er einfühlenderen Tonfalls fortfuhr: „Was also ist los?"
Ich schüttelte nur den Kopf, ohne noch etwas von mir zu geben. Ihn abzuschütteln, brachte ich nicht mehr fertig. Ihm etwas vorzuflunkern, schaffte ich ebenso wenig.
Er durfte nie allzu viel von diesen Beschwerden, die er stets als Gebrechen und Unpässlichkeiten pathologisierte, erfahren. Neigte der Doktor doch dazu, mir mit dramatischen Prophezeiungen über verschleppte Diagnosen in den Ohren zu liegen, desungeachtet jede noch so glühend heiße Spur in einer vorangeschrittenen Ermittlung sich hinten anstellen musste.
Ich umging das ganze Thema, sobald er es anschnitt. Aber das war schwierig. Ich war sein auserwähltes Objekt, an dem er, so wie es mir manchmal vorkam, an seinem Beschützerinstinkt feilschte, bis er auf Reaktionen stieß. Wer weiß, warum.
Dafür wusste ich etwas anderes. Er selbst hätte dieses Verhätscheln bei der kleinsten Schramme gehasst. Meistens jedenfalls. Es hätte Ausnahmen gegeben.
Am Ende des Tages gelang es ihm mit seiner unerschütterlichen Beharrlichkeit, nach all meinen Anstrengungen, ihn genau davon abzuhalten, stattdessen die Distanz zu verringern und für einen Moment zu mir durchzusickern. Und so reagierte ich. Ich antwortete ihm ehrlich, aber nur, weil ich mir nicht länger selbst untreu sein konnte. Ich konnte mit absoluter Präzision und Rationalität an die kompliziertesten Sachverhalte und abstraktesten Denkvorgänge herangehen. Aber nicht mehr an ihn. An Watson.
Ein Detektiv ohne Handhabe eines skizzierten Planes zur Theorienbildung, das funktionierte nicht. Mein Verstand arbeitete fieberhaft, er versuchte herauszufinden, was die Irritationen, die mich aus der Bahn gebracht hatten, angerichtet hatten. Und abzuschätzen, was noch zu retten war.
Vorhin die flüssige Substanz in meinen Körper zu drücken, war mir, entgegen meiner stillen Hoffnung, keine große Hilfe gewesen. Sie hatte sich trügerisch ausgebreitet und mich dann hinterrücks doch nur für kurze Zeit bereichert. Jetzt musste ich es aushalten, dieses lähmende Wirrwarr oder mit meinem letzten Rest klaren Verstandes anders beseitigen.
Meine Sicht war getrübt, als hätte plagender Nebel sich um sie gewickelt und mich der Rauch, aus all den schwarzen Schornsteinen in der Stadt, ihrer Klarheit beraubt. Ich wollte schnellstmöglich wieder ungehindert zu denken befähigt werden, mich auf meine Arbeit zurückbesinnen. Weiter nichts. Aber um hierfür Luft zu haben, musste ich endlich wissen, ob ich damit richtig lag, dass -und wenn dem so war, wie weit- mein menschliches Pendant sich von mir entfernt hatte. Und anschließend musste ich es wieder richtig austarieren. Damit ich funktionierte, ohne ständig nach rechts und links zu schwanken, von wo aus mich der Doktor wie ein Magnet beeinflusste. Er lief nicht mehr als helfende Hand nebenher. Er zog und schob an mir herum.
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Stufe um Stufe zu Schritt und Spur (Sherlock Holmes)
FanfictionEin Entzug. Und dazu, eine eher dramatische Schilderung von Holmes' und Watsons zwischenmenschlichem Durcheinander inmitten eines ermittlungstechnischen Miteinanders. Eine Entwicklung, geschildert aus wechselseitiger Perspektive. ...