SH:
Watson war fort. Kein Poltern mehr im Haus. Weder seine, für mich unter Hunderten heraus definierbaren Fußtritte auf der Treppe, noch das Scharren seines zurechtgerückten Stuhles. Kein Geräusch, das die Landung des stets gebürsteten Hutes beschrieb, der treffsicher auf den geschwungenen Garderobenhaken geschleudert worden war. Nur Leere. Dabei hätten wir, unserer eigenen Routine folgend, zum jetzigen Zeitpunkt die Auswertung des Falles vornehmen können. Gemeinsam Details überdenken und gegenseitig übriggebliebene Restfragen erörtern. Sein pragmatischer Draufblick war gefragt. Der, und sein naturgegebenes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse unserer Klientel, hatten mir schon oft zu neuen Erkenntnissen verholfen.
Am Sonntag, eine Woche zuvor, hatte er noch weitaus mehr Kommunikationsbereitschaft gezeigt.
„Wollen Sie Wein zum Essen, Holmes?"
„Nein."
In mir drin sah es ganz genauso aus, wie in unseren Zimmern. Dunkel, kalt, leblos. Mitnichten ein wünschenswerter Zustand, wie ich analysiert hatte. Mit Verwunderung versuchte ich zu ergründen, woher auf einmal die Not rührte, mir selbst Wärme und Leben einzuhauchen, und dadurch ein angenehmeres Allgemeinbefinden zu erzeugen. Ich versagte in der Ergründung, ermittelte aber das Patentrezept, den Zustand schleunigst zu beenden. Und so drehte ich mich, in Vorbereitung der Durchführung dessen, einmal halb um mich selbst, um hinter mich zu greifen.
Meine linke Hand zog ein Schubfach auf. Meine rechte Hand wühlte unter einem darin befindlichen Tuch aus Samt. Es war aquamarinblau, wie ich wusste. Keine warme Farbe. Auch kalt. Weich glitt es durch meine Finger, ließ sich lenken, genauso gefügig ausgeliefert, wie ich mir derzeit vorkam.
Unser kleiner Auftrag war beendet, er lenkte mich in keinster Weise mehr davon ab, wie er es in den Stunden zuvor getan hatte.
Die Rettungsaktion der alten Dame war glimpflich ausgegangen und ich hatte die Bürde aufgetragen bekommen, mich wieder mit mir selbst auseinanderzusetzen.
Beide Hände hoben ein Kästchen hervor, mit dem mich ein afrikanisch stämmiger Klient bedacht hatte, handgeschnitzt und unendlich kostbar für mich. Aber nicht wegen des äußeren Designs, sondern auf Grund seines Inhaltes. Ich konnte weder Watson täuschen, was diesbezüglich meinen schwachen Willen anging, noch besaß ich die Widerstandskraft, mich gegen das in der Schnitzerei befindliche Rauschmittel zu stellen. Derjenige von uns beiden, der problemlos ohne so etwas Schändliches auskam, ein Mehr an mentaler Stabilität verströmte, war seit jeher er. Mein guter Doktor ging in seiner Beflissenheit, das teuflische Zeug von mir fernzuhalten, irrigerweise davon aus, dass ich meinen Geist damit zu stimulieren suchte. Weit gefehlt! Der ratterte in einer Tour. Er war sogar überstimuliert. Ich musste gar nicht gegen die Ohnmacht der Langeweile ankämpfen. Diesmal nicht, dieses Mal verlangte er nach Beruhigung. Ich hatte trotzdem weiter das Verlangen nach Kokain, es schärfte meine Wahrnehmung und würde mir vielleicht aus meiner Niedergeschlagenheit heraus helfen.
Es quälte mich, diesem trübseligen Gedankenspiel ausgeliefert zu sein. Meine Zerfahrenheit brodelte in mir. Sie nahm bereits überhand. Der Doktor hatte seltener damit zu tun, er war der geradlinige Ausgleich in Person. Warum also ich, fragte ich mich?
Die Erlösung lockte. Die Flasche versprach, mit ihrer vertrauten Flüssigkeit Linderung herbeizuführen. Ich schwenkte sie bewundernd in meiner Rechten. Hiermit würde die Schlacht erträglich gemacht, ihre Wunden durchgestanden werden. Keine von Fakten ablenkenden Indizien mehr, die an mir rissen wie fremde Gegner. Nur die spitze Nadel. Ein kurzes Stechen für ein langes Durchhalten. Hemd hochgekrempelt, Arm abgebunden und rein damit! Dann abwarten. Und zählen. Immer noch warten.
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Stufe um Stufe zu Schritt und Spur (Sherlock Holmes)
FanficEin Entzug. Und dazu, eine eher dramatische Schilderung von Holmes' und Watsons zwischenmenschlichem Durcheinander inmitten eines ermittlungstechnischen Miteinanders. Eine Entwicklung, geschildert aus wechselseitiger Perspektive. ...