Der Brief

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Norah saß in ihrem Zimmer auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Unten in der Küche hörte sie ihre Mutter fröhlich pfeifen. Ein Weihnachtslied. Heiligabend stand kurz bevor und Catherine war gut gelaunt dabei, Kekse zu backen. Der Duft des langsam im Ofen warm werdenden Teigs verbreitete sich im Haus. Es war ein angenehm heimischer, zimtiger Geruch und Norah zog ihn tief ein, weil er den Eindruck von Festlichkeit, Familie und weihnachtlicher Freude erweckte. Innen war die Luft erfüllt von diesem herrlichen Duft, draußen rieselten Schneeflocken langsam und gemächlich zu Boden. Das Weihnachtsfest versprach, wunderschön winterlich zu werden.

Ob Allies Eltern sich überhaupt durchringen konnten, dieses Fest zu feiern, wo es doch erst wenige Tage her war, dass ihre Tochter ermordet worden war? Ermordet von jemandem, den sie für einen Freund gehalten hatte. In Norahs Ohren klang noch immer das Wimmern von Katy und vor ihrem inneren Auge konnte sie Nicks verstörten Ausdruck und Sidneys verweinte Augen klar und deutlich sehen.

Sie musste daran denken, wie Carter sie zu den Anderen begleitet hatte, nachdem sie ihm von ihrem Gespräch mit Angelina Rose erzählt hatte. Sein besorgter Ausdruck, in dem zugleich Wut und Tatendrang gelegen hatten, zuckte kurz in Norahs Gedächtnis. An diesem Abend waren Carter und Norah zum ersten Mal komplett offen gegenüber ihren Freunden gewesen. Sie hatten von ihrer Verbindung erzählt, von ihren Gaben und all das weiter gegeben, was Angelina Norah anvertraut hatte. Carter und Cam hatten ihrerseits dargelegt, was sie über August Blake wussten und herausgefunden hatten und nach und nach hatte sich ein Plan ergeben, dem alle zugestimmt hatten. Bald würde ein neues Jahr anbrechen und dann würden die Wächter und jene, die auf ihrer Seite standen, zurückschlagen.

Norahs Blick huschte vom Fenster und dem fallenden Schnee hinüber zu dem Brief, der noch immer geschlossen auf ihrem Schreibtisch lag. In feiner, geradliniger Handschrift waren ihr Name und ihre Adresse darauf und der Absender war niemand Geringeres als Angelina Rose.

Wie lange würde sie wohl noch warten, bis sie ihn endlich öffnete? Zu groß war ihre Angst davor, von den Wächtern abgewiesen zu werden. Und doch gab es noch etwas anderes, was sie davon abhielt. Wenn sie aufgenommen wurde, dann würde ihr Leben für immer ein anderes sein.

Langsam ging sie hinüber zu ihrem Tisch, ließ sich auf den Stuhl sinken und strich mit ihrer Hand über das grobe, weiße Papier.

Mit zittrigen Fingern nahm sie den Brief in die Hand und fuhr mit dem Fingernagel an die Kante, als ihr Handy klingelte und sie zusammenzucken ließ. Mit klopfendem Herzen sprang Norah auf und rannte hinüber zum Bett, wo das Handy auf dem Nachttisch lag. Beim letzten Klingeln hob sie ab, schloss kurz die Augen und sprach dann mit ruhiger Stimme:

„Norah Melbourne?"

„Hiiii", quietschte es am anderen Ende der Leitung. Eve.

„Hey", Norahs Puls verlangsamte sich wieder und fand zum Normalzustand zurück. Ihre Anspannung löste sich beim Klang der Stimme ihrer besten Freundin.

„Ouh mit dem falschen Fuß aufgestanden?", erkundigte sich Eve, die jede noch so kleine Stimmungsschwankung von Norah stets sofort durchschaute.

„Quatsch!", entgegnete Norah betont fröhlich und schaffte es zu ihrer eigenen Verwunderung, Eve zu überzeugen.

„Gut gut!", sie konnte Eve beinahe vor sich sehen, wie sie über das ganze Gesicht strahlte.

„Heute Nachmittag, und ein Nein wird nicht akzeptiert, treffen Tom, Liam, du und ich uns hier bei mir. Weihnachts-Singstar, Kekse und Glühwein. Das wird lustig!" Eves Begeisterung war ansteckend und Norah musste sich eingestehen, dass ein Grinsen ihr, in letzter Zeit oft ernstes und bedrücktes, Gesicht aufhellte. Ihre Freunde wussten bisher nichts von ihrem Verlust und Norah war bislang nichts eingefallen, wie sie ihre momentanen Gefühle erklären sollte, ohne sich in irgendeiner Weise zu verplappern und zu viel von der Wahrheit zu verraten.

„Alles klar", sagte sie daher nur und versuchte, sich nichts von ihrer gequälten Lage anmerken zu lassen.

„Oh das freut mich ja sowas von!"", kreischte Eve und Norah musste das Handy etwas weiter von ihrem Ohr weghalten.

„Ja mich auch", sagte sie matt. „Bis dann." Damit legte sie auf. Ihr Blick war starr auf das Fenster gerichtet und in ihr zog sich alles zusammen, dass ihr fast schlecht wurde. Wie konnte sie singen, Kekse essen und Glühwein trinken, wenn Allie doch tot war?

Die Wächter - ABTRÜNNIG (Bd 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt