Es war ein seltsames Gefühl, mit Carter an ihrer Seite zurück zu Eve zu laufen. Norah hatte ja gesagt, ohne auch nur im Entferntesten zu wissen, warum. Cameron würde das ganz und gar nicht gefallen und Catherine würde vermutlich durchdrehen. Norah konnte sich nicht erinnern, abgesehen von Liam überhaupt schon einmal einen Jungen mit nach Hause gebracht zu haben. Und dann auch noch über Weihnachten. Ob Catherines gute Laune von heute Morgen ausreichen würde, um diesen Umstand einfach hinzunehmen? Ihre Mutter war wie ausgewechselt und Norah gefiel diese neue Version von Catherine. Der stille Verdacht, dass ein Mann hinter dem augenblicklichen Gemütszustand dieser Frau steckte, hatte sich bereits tief eingebrannt und Norah war erpicht darauf, ihn bestätigt zu finden.
Carter lief schweigend neben ihr her und überließ sie ihren Gedanken. Ab und an warf er ihr einen kurzen Blick zu, ganz so, als würde er es noch nicht ganz glauben, dass sie einfach und ohne zu zögern ja gesagt hatte. Norah nahm sein Schweigen dankbar hin, ihre Gedanken waren ohnehin viel zu aufgewühlt, um sie klar zu fassen und in Worte umzuwandeln. Wie sehr sich ihr Leben verändert hatte seit Cameron bei dem Schulball aufgetaucht war, stürzte geradezu auf Norah ein, während sie durch den Schnee stapften und um eine Ecke nach der nächsten bogen. Es war kaum zu glauben, dass Norah inzwischen selbst schon über Gaben, Wächter und Abtrünnige sprach, als wäre es etwas vollkommen Alltägliches.
Zum dritten Mal an diesem Tag passierte Norah die Ecke, hinter der das Haus von Eves Eltern einladend auf sie wartete, und blieb abrupt stehen. Carter sah sie fragend an, doch Norah schüttelte bloß den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. Siedend heiß war ihr wieder eingefgallen, wie eifersüchtig Liam vorhin bei dem Gespräch über die Jungs an Norahs Schule reagiert hatte und nun brachte sie einen von ihnen sogar mit. Was würden ihre Freunde dazu sagen? Andererseits hatten sie großes Verständnis gezeigt, als Norah von Allies tödlichem Unfall erzählt hatte und würden Carter garantiert offen gegenüber stehen. Ein Kloß breitete sich in Norahs Kehle aus. Allies Unfall. Heiße Tränen stiegen in ihr empor, wie sie es bei jedem Gedanken an ihre Freundin taten. Sie hatte Carter nicht einmal näher kommen bemerkt, doch nun lag seine Hand beruhigend auf ihrer Schulter und sanfte Augen blickten sie mitfühlend an.
"Ist alles okay bei dir, N?"
Norah nickte stumm, während Tränen tonlos über ihre Wange kullerten. Carter schloss sie in seine Arme und sie spürte das gewohnte Kribbeln seiner Nähe. Umschlossen von der Wärme seines Körpers fühlte sie tief in sich hinein und tastete nach ihrer Verbindung zu diesem Jungen, der ihr in so kurzer Zeit ein so großer Freund geworden war. Den sie auf eine gewisse Art liebte und bis ins Mark vertraute. Der nicht nach Hause wollte und es nicht einmal über sich brachte, über den Grund zu reden. Nicht einmal mit ihr. Schmerzlich wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihn wusste und wieder einmal erschreckte es sie, wie groß ihr Verlangen nach mehr war. Mehr Carter.
Sanft strich er ihr über den Rücken und Norah merkte, dass ihre Tränen versiegten. Sie dachte an den Abend zurück, an dem Allie gestorben war. Sie dachte daran, wie sie durch die Verbindung hindurch gespürt hatte, dass Carter in Gefahr war und losgerannt war. In diesem Moment war ihr alles egal gewesen. Sie hatte keinen Gedanken darauf verschwendet, was in der Schule passierte. Sie hatte nur an ihn gedacht. Daran, dass er sie brauchte. Und wieder einmal versetzte es ihr einen Stich, dass dies nur eines bedeuten konnte, doch sie wollte es nicht einsehen.
Norah lehnte sich in Carters Armen so weit zurück, dass sie ihm gerade in die Augen schauen konnte. Ruhig und warm ruhten sie auf ihr. Ihre Blicke verknoteten sich und Norah spürte ein Ziehen und Zerren im Magen und ein Verlangen überkam sie, das sie weder kontrollieren noch dulden konnte. Wie konnte sie jemanden anders als Cameron wollen und wieso war sie zu solchen Gefühlen überhaupt fähig, wenn Allie doch tot war?
Mit einem Ruck löste sie sich von Carter und wandte sich von ihm ab und Eves Haus zu.
"Da vorne ist es." sagte sie. "Du wirst sie mögen." Sie zwang sich zu einem Lächeln und der Moment mit Carter war vorbei. Sein Ausdruck wurde blank und undurchdringlich und er folgte ihr mit einem Nicken.
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Die Wächter - ABTRÜNNIG (Bd 2)
Teen Fiction"Zeit heilt alle Wunden." Und wenn man die Zeit manipulieren kann? Kann man Wunden, statt sie zu heilen, verhindern? Norah ist noch immer innerlich zerbrochen, weil sie den Tod ihrer Freundin einfach nicht begreifen kann. Zu groß ist die Verführung...