Den ganzen Weg zurück von Eve zu Norah nach Hause liefen sie schweigend nebeneinander her. Norah wurde allmählich doch etwas nervös, weil sie ihrer Mutter bislang nichts von dem unerwarteten Besuch erzählt hatte und auch Carter schien mit seinen Gedanken in seiner ganz eigenen Welt zu sein. Wie lange er wohl zu bleiben vorhatte?
Leise und in fast zärtlicher Ruhe rieselten feine Schneeflocken zu Boden. Norah streckte ihre Hand auf und fing einige davon auf.
"Weißt du noch, wie du die Zeit angehalten hast und der Schnee mitten in der Luft erstarrt ist?" fragte sie und blickte Carter von der Seite an.
"Natürlich." er nickte und blieb stehen, um sich ihr zuzuwenden. Norah hielt ebenfalls inne und drehte sich zu ihm um.
"Es war wunderschön" sie lächelte schwach und schloss die Augen. Fast augenblicklich durchströmte sie eine Wärme, die ihr inzwischen nur allzu vertraut war. Sie tastete nach der Energie und sprach in Gedanken den Befehl aus, die Zeit anzuhalten. Als sie die Augen wieder öffnete, stand die Welt still. Bloß Carters Brust bewegte sich noch bei jedem seiner Atemzüge, völlig synchron zu Norahs eigener Atmung.
Norah blickte sich um. Sie war umgeben von kleinen, weißen Flocken, deren kristalline Formen das Licht der Straßenlaternen reflektierten. Sie dachte zurück an den Moment im Pavillion, an den Moment mit Carter, in dem er so sanft und aufrichtig gewesen war.
"Es ist noch immer wunderschön" durchbrach Carters leise Stimme die Stille.
Norah sah ihn an. In seinem Gesicht lag eine Traurigkeit, die sie nicht erwartet hatte. Alles in ihr verzehrte sich danach, zu ihm zu gehen und ihn zu berühren, ihm Zuversicht zu geben, doch sie konnte nicht. Unsichtbare Fesseln hielten sie an Ort und Stelle gefangen. Sie wusste nicht, wie sie mit diesem Carter, der Schwächen hatte und verletzlich wirkte, umgehen sollte.
"Aber deine Gefühle haben sich genau so wenig verändert wie die Schönheit dieses Moments" Carters blaue Augen bohrten sich mit solcher Intensität in Norahs, dass sie fast schon den altbekannten, doch längst vertriebenen Schmerz erwartete. Doch er kam nicht. Stattdessen waren da fremde Gefühle in ihr, verwirrt, aufgebraucht, einsam und orientierungslos. Je länger sie einander in die Augen blickten, desto verknoteter wurden sie, gerieten ins Strudeln und durchströmten Norah, als wären es ihre eigenen. Carter kam einen Schritt auf sie zu und im selben Augenblick begann die Verbindung an Norah zu zerren, sie zu ihm zu treiben. Doch sie konnte nicht wegsehen. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Sie standen jetzt nur noch einen halben Meter voneinander entfernt. Carters Atem erzeugte weiße Wölkchen, die sich mit Norahs weißen Atemwolken in der Luft verbanden. Die Intensität des Moments war atemberaubend.
Wie in Trance hob Norah einen Arm und streckte ihre Hand nach Carters Brust aus. Als sie den Stoff seiner Jacke berührte, kribbelten ihre Fingerspitzen wie elektrisiert. Carters Atmung beschleunigte sich und in der Stille meinte Norah ihr verräterisch laut klopfendes Herz hämmern hören zu können. Bumm bumm bumm. Doch in den Rhythmus mischten sich nun auch andere Geräusche. Ein sanftes Rauschen, das Summen von Elektrizität, entfernte Weihnachtsmusik, die aus einem hell erleuchteten Wohnzimmer auf die Straße drang. Kalte, feuchte Schneeflocken benetzten Norahs Nasenspitze und Finger. Erst da begriff Norah, dass der Zeitstopp gebrochen war. Der Rhythmus ihres Herzens war dennoch noch deutlich zu hören. Doch er wurde schneller, unregelmäßiger und melodisch. Carters Blick hatte kaum an Intensität verloren, als er fragte: "willst du nicht rangehen?"
Verwirrt starrte Norah ihn an, bis auch sie es erkannte. Ihr Handy klingelte.
"Ja?" Norahs Hand, mit der sie das Telefon an ihr Ohr presste, zitterte noch leicht.
"Ich bin gleich da." Norah sah mit dem Handy am Ohr zu Carter herüber, der wieder ganz wie der alte Carter aussah: gelassen, intelligent, unerschrocken.
"Achja und Mum? Kannst du das Gästezimmer vorbereiten? Wir bekommen Besuch."
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Die Wächter - ABTRÜNNIG (Bd 2)
Teen Fiction"Zeit heilt alle Wunden." Und wenn man die Zeit manipulieren kann? Kann man Wunden, statt sie zu heilen, verhindern? Norah ist noch immer innerlich zerbrochen, weil sie den Tod ihrer Freundin einfach nicht begreifen kann. Zu groß ist die Verführung...