6. London

315 17 3
                                    




            

Wie in Zeitlupe lässt er die Hand, in der er die Tasse hält,  sinken. Ich starre ihn an, während ich auf eine Reaktion warte, und  knete nervös meine Finger. Er öffnet kurz den Mund, doch dann schließt  er ihn wieder, als würden ihm die Worte fehlen. Krampfhaft halte ich  mich an meiner Decke fest, während erneut leichte Panik in mir  aufsteigt. Die Situation jagt mir Angst ein. Ich wünschte, ich könnte  ihn einschätzen, doch trotz meiner guten Menschenkenntnis kann ich das  nicht. Wieder halte ich die Luft an, als er wieder seinen Mund öffnet.

„Ich wollte dich nicht enttäuschen", ist das einzige, was er sagt.

Mit großen Augen sehe ich ihn an. Er hat mich nicht enttäuscht! Warum versteht er das denn nicht?

„Patrick, ich habe doch gesagt, ich wäre enttäuscht gewesen, wenn du  wirklich weggegangen wärst. Aber du bist geblieben. Du hast mich nicht  enttäuscht", versuche ich ihm zu erklären. Noch immer sitzt er da wie  ein kleiner Junge, der Hilfe braucht. Und ich wünschte, ich könnte ihm  helfen.

„Patrick, es ist alles okay", flüstere ich und nehme seine Hände. Dann  merke ich, wie er sich langsam entspannt. Ich betrachte ihn. Er ist so  ganz anders als im Flugzeug, als ich ihn kennen gelernt habe. Und auch  bei unserem ersten Treffen war er anders als jetzt. Er wirkte auf mich  so stark, doch jetzt ist er so zerbrechlich.

Einen ganz kurzen Moment muss ich an Jamie denken. Habe ich ihn jemals  so zerbrechlich erlebt? Außer damals, als wir Streit hatten und ich mich  trennen wollte, nicht. Er wirkt immer unglaublich stark, doch ob er es  wirklich ist, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an die vielen  Situationen, in denen er mich getröstet und aufgebaut hat, während ich  klein und schwach war, doch nie war es umgekehrt. Wieder schäme ich mich  dafür, dass ich in so einer Situation an Jamie denke. Warum muss ich  Patrick immer mit ihm vergleichen?

Zärtlich streiche ich mit dem  Daumen über Patricks Hände. Er hat sich wieder beruhigt, und nun sitzen  wir hier und schweigen seit einer Weile. Noch immer weiß ich nicht, was  gerade mit ihm los war, doch ich traue mich nicht, ihn zu fragen.  Vielleicht wird er es mir irgendwann von sich aus sagen.

„Was arbeitest du eigentlich?", frage ich schließlich und durchbreche damit die Stille.

„Ich bin Musiker. Das weißt du doch", sagt er leise und lächelt mich an.  Mein Herz macht einen Sprung – ja, da ist es wieder, dieses tolle  Lächeln.

„Und was hast du heute gemacht? Hast du einen festen Arbeitstag?", löchere ich ihn weiter.

„Ich war im Studio", antwortet er nur.

„Nimmst du ein Album auf?"

„Ja."

„Gibst du noch Konzerte?"

„Nein." Nein? Aber tut man das als Musiker nicht?

„Wieso nicht?"

„Amy... ich möchte da nicht drüber reden. Vielleicht ein andermal, ja?"

„Ja", sage ich leise und versuche, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Von dem kleinen schüchternen Jungen ist keine Spur.

„Wann kommt dein Verlobter wieder?", fragt er jetzt. Bei dem Wort  „Verlobter" zucke ich zusammen. Heilige Scheiße, ich bin verlobt!

„Ich... weiß nicht. Ich glaube er ist bei einem Kumpel oder so. Bestimmt übernachtet er dort."

Als ich Patrick angucke, schaue ich in sein überraschtes Gesicht.

"Du  weißt nicht, wann er wiederkommt? Sagt ihr euch das nicht vorher, wenn  ihr weg geht?", fragt er.

„Ähm..." Was soll ich sagen? Nein, wir sagen uns das nicht, weil unsere  Beziehung irgendwie nicht mehr das ist, was sie mal war. „Doch,  eigentlich sagen wir uns das, aber wir haben uns... irgendwie  gestritten."

AmelieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt