Der Entschluss

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Ich traute meinen Ohren nicht. Ich konnte es einfach nicht glauben. Sie hatten mich wirklich gefragt, ob ich von ihnen adoptiert werden möchte. Das wäre meine Chance endlich aus dem Heim zu entkommen. Andererseits kenne ich diese Menschen eigentlich gar nicht, aber sie wirken so nett. Aber kann ich ihnen trauen? Ich schaute die drei vor mir an. Kann ich mir vorstellen hier zu leben? Diese Menschen als neue "Familie" zu sehen? Mein Blick wanderte zu Harry. Er hatte mir geholfen. Er hatte mich hier her gebracht. Umso länger ich überlegte, desto trauriger wurde sein Blick. Denkt er, ich würde nein sagen? Ich kannte ihn nicht und seine Familie genauso wenig, aber er gab mir mit seiner Präsenz eine gewisse Sicherheit. Schließlich war er es, der mir den Regenschirm gebracht hatte. Ich drehte mich zurück. Ich überlebe es in dem Heim nicht noch länger. Ich nickte ihnen zu. Ich war mir sicher bei ihnen wollte ich bleiben. Auf dem Gesicht der Frau und des Mannes bildete sich jeweils ein breites Lächeln. Ich bin also für sie keine Last, sonst würden sie sich ja jetzt nicht freuen oder? Mein Blick wanderte zu Harry, der ebenfalls sehr glücklich wirkte. "Aber geht das denn einfach so?", fragte plötzlich Harry's Schwester. "Wie meinst du das?", fragte Harry verwirrt. "Kann man einen Menschen einfach so von einen auf den nächsten Tag adoptieren? Ist das überhaupt rechtlich möglich?", erkundigte sie sich. Mein Lächeln verschwand. Sie hat recht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das so einfach geht. Viele der Kinder im Heim sind seit langer Zeit dort. Es kam nur sehr selten vor, dass eines adoptiert wurde. Ich habe nie mitbekommen, wie so etwas ablief. "Hier sitzen und zu überlegen, bringt uns nicht weiter. Ich schlage vor, wir fahren einfach gemeinsam hin und erkundigen uns.", schlug Robin vor. Anne nickte zustimmend. Doch ich empfand es als keine gute Idee. Was ist, wenn ich da bleiben muss? Was ist, wenn sie mich gar nicht adoptieren dürfen? Zweifel und Angst durchfuhren mich und ich legte meine Arme um meinen Körper, um mich zu beruhigen. Doch die Angst blieb. Es wäre total unlogisch, wenn eine Adoption so schnell in die Wege geleitet werden könnte. "So kann sie nicht mit.", meinte Gemma zweifelnd, als sie mich betrachtete. Ich schaute an mir hinab. Ich trug einen viel zu großen Pullover, den man mir angezogen haben musste. Plötzlich war es mir klar, wie ein Schlag ins Gesicht. Hatten Sie meine Narben gesehen? Meine blauen Flecke? Hatten sie gesehen, was sie mir dort antun? Es wäre mir peinlich, wenn sie es wüssten. Ich schäme mich für meinen kaputten Körper. Vor Schock waren meine Augen weit aufgerissen, während ich auf den warmen großen Pullover starrte. Ich hatte noch meine Strumpfhose an, stellte ich erleichtert fest und mein Top auch. Das würde bedeuten, dass sie das Meiste nicht gesehen hatten. Ich beruhigte mich etwas und schaute wieder auf. Anne schien zu überlegen. "Wir könnten eine Kiste mit deiner alten Kleidung vom Dachboden holen.", schlug Anne vor und schaute dabei Gemma an, die bestätigend nickte. "Harry, willst du nachsehen?", fragte Anne nun. Ich drehte mich leicht um, um nach Harry zu sehen, der hinter mir stand. Er nickte lächelnd und lief los. Ohne ihn fühlte ich mich merkwürdiger Weise gleich unwohler. Ich schaute ihm traurig nach. Vielleicht waren sie nur so nett zu mir wegen ihm? Plötzlich wurde ich am Arm angetippt. Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr zurück. Gemma schaute mich etwas geschockt an, doch dann wurden ihre Gesichtszüge sofort weicher. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Möchtest du mit Harry gehen?", fragte sie lächelnd. Sie muss gesehen haben, dass ich ihm nachgeschaut hatte. Ich nickte unsicher. "Komm, ich bringe dich hoch", meinte sie schnell und sprang auf. Anne lächelte mich lieb an und nickte mir zu. Vorsichtig folgte ich Gemma durch das große Haus. Es war wunderschön hier. Alles war sehr stilvoll eingerichtet und alles hatte seinen Platz. Es war einfach so ganz anders als im Heim. Es strahlte etwas familiäres aus. Überall hingen Fotos von ihnen an der Wand. Ich würde sie mir gerne alle anschauen, doch dafür blieb mir jetzt keine Zeit. Gemma lief die Treppe hinauf, die ich zuvor hinunter gelaufen war. Ich hatte mich nur an den Stimmen orientiert und mir den Weg gar nicht gemerkt. Als wir oben ankamen, wusste ich nicht mal aus welchem Zimmer ich kam. Gemma lief weiter und öffnete weiter hinten eine Tür, hinter der sich eine kleine Wendeltreppe verbarg. Langsam erklommen wir sie und kamen am Dachboden an. Es war ein großer Raum mit unendlich vielen Kisten. "Hier ist es noch sehr unaufgeräumt. Wir sind erst vor einem Monat hier her gezogen.", erklärte Gemma die leichte Unordnung. Das erklärt, warum ich sie zuvor noch nie hier gesehen habe. Ich nickte verständsvoll und schaute mich nach Harry um. Er stand weiter hinten bei einem Fenster und öffnete gerade eine Kiste. "Harry.", rief Gemma, weshalb er sich neugierig zu uns umdrehte. Als er mich sah, formte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ich lächelte zaghaft zurück. Gemma lief zu ihm und ich folgte ihr langsam. Harry wühlte nun in einer der großen Kisten. "Findest du etwas?", erkundigte sich Gemma neugierig. "Die Kleidung wird ihr zu klein sein. Das sind Stücke, die du mit zehn Jahren oder noch jünger getragen hast.", murmelte er leicht genervt. Es war, wie es aussah, bereits die vierte Kiste, die er geöffnet hatte und er war immer noch nicht fündig geworden. "Lass mich mal machen.", sagte Gemma lachend und zwinkerte ihm zu. Ich war etwas verwirrt, weil ich das Zwinkern ihrerseits nicht verstand. Sollte es bedeuten, dass sie es besser kann? Harry verdrehte die Augen und reichte ihr das Taschenmesser, mit dem er die Kartons geöffnet hatte. Gemma schaute sich um und warf dann einen Blick in die Kartons, die Harry schon geöffnet hatte. Sie begann zu schmunzeln und ging ganz ans andere Ende der Reihe. Sie schnitt schnell den Karton auf und schaute hinein. "Tja Bruderherz, ich hab auf Anhieb die richtigen Sachen gefunden.", sagte sie amüsiert. Harry seufzte. Auf meinen Lippen bildete sich ein Lächeln, irgendwie war es witzig, wie sie miteinander umgingen. Gemma gab mir ein Handzeichen, dass ich herkommen sollte. Unsicher schaute ich zu Harry, der mir beruhigend zu nickte. Langsam lief ich zu Gemma und ließ meinen Blick in die Kiste wandern. Wow, waren das viele Kleidungsstücke. Sie suchte ein graues langärmliges Kleid heraus und eine schwarze Strumpfhose. Ich deutete ihr an, dass ich bereits eine anhabe, aber sie schüttelte nur den Kopf und gab sie mir. Nun holte sie noch eine Strickjacke heraus und riss einen anderen Karton auf. "Welche Schuhgröße hast du?", fragte sie mich ohne nachzudenken. Hilflos schaute ich sie an. Harry kam zu mir und musterte meine Füße. "38?", fragte er. Ich schüttelte den Kopf. "Kleiner?", fragte er weiter. Ich nickte schnell. Er begann zu lächeln. Er gab sich so viel Mühe mir zu helfen. Wie soll ich ihm je dafür danken? "37?" Ich schüttelte erneut den Kopf. Etwas geschockt schaute Gemma mich an. "Du hast Schuhgröße 36?", fragte sie, als wäre es vollkommen absurd. Ich nickte unsicher. Sie schüchterte mich ein. "Dann muss ich einen anderen Karton öffnen.", sagte sie schmunzelnd. Schnell hatte sie einen anderen geöffnet und ein paar graue Stieffelletten heraus geholt. "Die sehen zwar ein bisschen kindlich aus, aber ich hab keine Erwachsenenschuhe in Größe 36 und die würden zu der Kleidung passen.", sagte sie entschuldigend. Ich fand die Schuhe überhaupt nicht kindlich. Ich hatte lange nicht mehr so schöne Sachen zum Anziehen, doch diese waren ja auch gar nicht meine. Sie sind ja schließlich nur geborgt. "Kommt, lasst uns gehen, damit wir schnell fahren können.", sagte Harry aufgeregt. Wir liefen die steile Treppe herunter und Gemma zeigte mir das Bad, in dem ich mich umziehen konnte. Schnell wechselte ich die Kleidung und betrachtete mich im Spiegel. Ich erkannte mich kaum wieder. Abgesehen von meiner blassen Haut, den Augenringen und meinen zerzausten Haaren, erinnerte mich nichts mehr an das Mädchen, was ich heute früh noch war. Es klopfte an der Tür, weshalb ich erschrocken zusammen fuhr. Schnell lief ich zur Tür und öffnete sie. Vor mir stand ein lächelnder Harry, der nur noch breiter lächelte, als er mich sah. "Du siehst wirklich schön aus.", flüsterte er, während er mich musterte. Unwohl strich ich mir über den Arm. "Eins fehlt aber noch.", meinte er plötzlich und zog mich zurück ins Bad. Er kramte in einer Schublade und holte eine Bürste hervor. "Hier bitte.", sagte er lächelnd und überreichte sie mir. Dankend nickte ich ihm zu. Vorsichtig begann ich meine Haare zu bürsten. Es fiel mir unglaublich schwer, weil sie ziemlich stark verknotet waren. Ich hatte das Gefühl, dass es gar kein Durchkommen gab. "Warte, ich helfe dir.", murmelte er und nahm mir die Bürste aus der Hand. Dabei berührten sich unsere Hände ganz leicht. Durch diese Berührung bekam ich eine Gänsehaut. Was sollte das bedeuten? Vorsichtig und zwischendurch mit mehr Kraft bürstete er meine Haare. Es ziepte immer wieder und er entschuldigte sich jedes Mal sofort, wenn er es bemerkte. Als er fertig war, lächelte er mich glücklich an. Ich schaute hinauf in den Spiegel und nun traute ich meinen Augen wirklich nicht mehr. Ich sah anders aus. Meine Haare fielen nun glatt herunter und umrahmten mein Gesicht. Ich sah mit einem Mal viel gepflegter aus und fühlte mich auch gleich ein bisschen wohler in meiner Haut. "Kommst du?", fragte Harry und öffnete die Tür. Schnell nickte ich und nahm meine Schuhe, die ich aus Höflichkeit noch nicht angezogen hatte. Als wir unten ankamen, standen Anne und Robin schon abfahrbereit im Flur. Erstaunt schauten sie mich an und sofort bildete sich ein breites Lächeln in Annes Gesicht. "Du siehst toll aus.", sagte sie glücklich. "Gemma wird nicht mitfahren. Sie trifft sich noch mit Freunden.", informierte uns Robin und öffnete die Tür. Schnell zog ich die Schuhe über und schaute zu Harry, der mir eine Jacke reichte. "Gemma hatte nicht daran gedacht. Ich habe sie dir gerade noch schnell geholt, als du dich umgezogen hast.", erklärte er. Dankend nahm ich ihm die Jacke ab und zog sie an. Es war ein grauer langer Stoffmantel. Er war ein klein bisschen zu groß, aber das störte mich nicht. Harry hatte sich mittlerweile auch angezogen und zeigte mir an nach draußen zu gehen. Der Regen hatte nachgelassen. Es tröpfelte nur noch vereinzelt, weshalb ich es nicht für nötig empfand die Kapuze des Mantels über zu ziehen. Schnell lief ich Harry hinterher zur Garage. Anne und Robin stiegen gerade in das Auto ein. Es war ein blaues großes Auto. Die Marke konnte ich so schnell nicht erkennen, denn Harry hatte schon die Tür aufgemacht, damit ich einsteigen kann. Ich tat dies und schnallte mich an. Harry stieg auf der anderen Seite ein und schon ging es los. Die Fahrt über war es still. Es war keine erdrückende Stille, nein, ganz im Gegenteil es war beruhigend. Doch umso näher wir dem Heim kamen, desto nervöser wurde ich. Was ist, wenn keine Adoption möglich ist? Was ist, wenn ich da bleiben muss?

Sometimes you don't need words...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt