Ein langes Gespräch

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Ich verließ sie nur ungern. Sie wirkte so schwach und zerbrechlich. Ich will ihr irgendwie helfen. Das wollte ich schon, als ich sie das erste Mal sah. Doch habe ich mich nicht getraut. Schon einen Monat hatte ich sie nun beobachtet, wie sie jeden Tag zu dem Grab lief. Sie setzte sich, schaute starr auf den Stein, manchmal entfernte sie etwas Unkraut und nach einer Stunde ging sie wieder. Doch gestern war es anders. Sie blieb sitzen, länger als sonst und wirkte auch viel trauriger als alle Tage zuvor. Der Regen prasselte auf sie ein und so zierlich wie sie wirkt, hatte ich Angst er könnte sie verletzen. Ich hätte sie dort nicht sitzen lassen dürfen. Nein, ich hätte sie gleich mitnehmen müssen. Ich will gar nicht wissen, wie kalt ihr war und wie müde sie war. Irgendetwas an ihr macht mich neugierig. Ich hab das Bedürfnis sie kennenlernen zu wollen und deswegen kann ich es nicht zulassen, dass Mum sie zurück ins Heim bringt. In der kleinen Stadt reden sie über das Heim. Man hat mir erzählt, dass die Kinder dort oft geschlagen werden und nicht gut behandelt werden. So wie sie reagiert hat, stimmen diese Anschuldigungen. Ich will nicht wissen, wie sehr sie dort schon leiden musste. Mum wartete in der Stube auf mich. Zusammen mit meinem Stiefvater saß sie auf dem Sofa. Ich lief zu ihnen und setzte mich auf den Sessel. Mum war in Gedanken vertieft, während Robin scheinbar auf mich gewartet hatte. "Junge, ich finde es wirklich lobenswert wie barmherzig du bist, aber wir müssen sie ins Heim zurück bringen.", begann er zögerlich. Er hatte mich also durchschaut, dass ich sie bitten würde, sie hier zu behalten. "Aber Robin, du weißt, wie sie über das Heim reden. Ich möchte ihr helfen.", versuchte ich dagegen zu halten. "Wie stellst du dir das vor?", fragte Robin mit ruhiger Stimme. Er regte sich so gut wie nie auf. Er war immer ein sehr ruhiger Mensch, der nachdachte und sich dann eine Meinung bildete. Also habe ich die Hoffnung ihn überzeugen zu können. Ich wusste mein nächster Vorschlag, war viel verlangt und hatte Streitpotenzial, aber ich musste ihn machen. "Wir könnten sie adoptieren.", sagte ich vorsichtig. Robins Augen wurden groß. "Ich weiß, dass ist unglaublich viel verlangt, aber sie braucht Hilfe. Sie braucht eine Familie und einen Ort, wo sie sich wohl fühlen kann. Ich will ihr schreiben beibringen und alle anderen Dinge, die sie noch nicht kann. Niemand hat sie wahrscheinlich bis jetzt gefördert und jeder Mensch hat ein Recht darauf etwas gelehrt zu bekommen. Bitte Robin, du musst sie sehen. Sie sieht so liebenswert aus und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwem von uns etwas böses wollen würde.", argumentierte ich weiter. Ich wollte die Hoffnung einfach nicht aufgeben. "Harry hat recht Robin. Ich glaub, sie braucht uns wirklich. Sie hat so geweint, als ich das Heim erwähnt habe. Ich möchte sie wirklich nicht zurückschicken.", warf Mum ein und erstaunte mich so ziemlich. Ich hätte nicht gedacht, dass Mum meiner Ansicht ist. "Wir kennen sie aber noch gar nicht.", meinte Robin nun. "Vielleicht können wir einen Kompromiss finden.", schlug ich vor. Ich will sie hier haben und wenn ich dann auf etwas verzichten muss, dann ist das so. "Ich möchte ungern ein wildfremdes Mädchen ohne weiteres hier aufnehmen. Deswegen würde ich vorschlagen, dass wir sie vorerst zurück ins Heim bringen und sie uns dann ja nachmittags besuchen kommen kann, damit wir sie kennenlernen können.", schlug Robin vor, doch dieser Vorschlag entsprach so gar nicht meinen Vorstellungen. "Robin, Schatz, ich glaube wir würden das wenige Vertrauen, was sie uns momentan entgegenbringt, verlieren, wenn wir sie zurückschicken würden.", meinte Mum zweifelnd. Ich nickte bestätigend. Sie schien wirklich nicht leicht zu vertrauen. "Aber wie stellst du dir das vor Anne?", fragte Robin nun sie. "Wir könnten ihr das Gästezimmer nach und nach herrichten. Wir haben genug Geld, um sie zu versorgen. Einer Adoption würde ja nichts im Weg stehen, abgesehen von der Tatsache, dass wir sie kaum kennen.", erklärte Mum ihre Vorstellung. Robin sah nachdenklich auf den Boden. "Vielleicht ist es ja ein Zeichen Gottes, dass du sie heute zu uns gebracht hast Harry.", murmelte Robin und verschränkte seine Hände. Er schaute auf zu Anne und schenkte ihr ein warmes Lächeln. "Wir müssen erst mit Gemma sprechen, bevor wir uns schlussendlich entscheiden.", sagte er, während sich auf meinen Lippen ein breites Lächeln bildete. Er hatte sich also wirklich umstimmen lassen. Manchmal hat es auch Vorteile einen Pastor als Stiefvater zu haben. Gemma müsste bald zurück sein. Sie arbeitet in einem Blumenladen. Es war zwar nicht ihr Traumberuf, doch ihr war es wichtig zu arbeiten, um ein eigenes Einkommen zu haben und neue Menschen kennenzulernen. Doch mittlerweile findet sie immer mehr Gefallen an ihrem momentanen Beruf. Wir sind erst vor einem Monat hergezogen. Nach Vaters Tod lebten wir eine Zeit lang in London bei meinen Großeltern, doch Mum mag die Stadt nicht. Sie lebt lieber auf dem Land. Als sie sich in Robin verliebte, bekam er ein Stellenangebot für diese Kirchengemeinde. Sie entschlossen sich beide dafür, dass es das Richtige sei hier her zu ziehen und ich kann nicht sagen, dass ich ihre Entscheidung schlecht finde. Ich liebe das Land und ich habe hier schon einige Jugendliche kennengelernt durch das Sommerfest. Bald würde die Schule beginnen und so eine weitere Chance für mich Freunde zu finden. Wenn ich ehrlich war, hatte ich etwas Angst vor all dem hier, aber ich bin glücklich, so wie es gekommen ist. Mum und Robin hatten in der Zeit weiter darüber gesprochen, wie sie es alles organisieren könnten mit der Adoption, als es plötzlich klingelte. Schnell sprang ich auf und lief zur Tür. Eine lächelnde Gemma kam hinter der Tür zum Vorschein und lief seelenruhig in die Wohnung. "Na Bruder, wie sieht es aus? Wie war dein Tag?", fragte sie neugierig. Ich wusste, worauf sie hinaus wollte. Sie wusste von dem Mädchen und dass ich sie jeden Tag beobachtet hatte. Sie wollte also wissen, ob ich sie endlich angesprochen hatte. Wenn sie nur wüsste, dass sie gerade im Gästezimmer im Bett liegt und sich ausruht. "Gemma, du musst unbedingt in die Stube kommen. Wir müssen etwas mit dir besprechen.", sagte ich schnell und versuchte sie Richtung Wohnzimmer zu steuern. "Ist etwas passiert?", fragte sie besorgt. "Nicht direkt.", nuschelte ich und wusste nicht wirklich, wie ich es in Worte fassen sollte. Gemma schaute noch immer verwirrt, lief nun aber endlich nach dem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte in die Stube. Ich lief ihr hinterher und lehnte mich an die Rückenlehne des Sessels, wo nun Gemma Platz genommen hatte und ich vor einigen Augenblicken auch noch saß. Gemma schaute Mum und Robin erwartungsvoll an. Doch die schauten wiederum mich an. "Das Mädchen von dem ich dir erzählt habe, kommt aus dem Heim.", fing ich langsam an. Wie sollte ich es nur kurz fassen? Wie sollte ich es überhaupt erklären? "Ja und?", fragte Gemma noch immer sichtlich verwirrt. Mum sah meine Verzweiflung und ergriff kurzer Hand das Wort: "Harry hat sie heute Mittag zusammengebrochen auf dem Friedhof gefunden. Er hat sie zu uns gebracht. Als sie erwachte, war sie vollkommen aufgelöst und ängstlich. Sie ist stumm. Also sie versucht zu kommunizieren, kann jedoch von Geburt an nicht sprechen. Durch Ja/Nein-Fragen haben wir schließlich herausgefunden, dass sie aus dem Heim stammt und ihre Eltern verstorben sind. Als ich es erwähnte, dass wir sie zurückbringen müssen, weinte sie sehr stark und hat versucht mit Gestik uns mitzuteilen, dass wir sie nicht zurückbringen sollen. Deshalb haben wir uns gerade eben zusammengesetzt. Harry und ich möchten ihr gerne helfen. Das arme Kind braucht eine Familie. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir sie gerne adoptieren würden und wollten nun deine Meinung dazu hören." Mum hatte es wirklich gut zusammengefasst. "Wir wissen es ist jetzt sehr viel. Ich möchte dir nur versichern, dass es vollkommen legitim ist nein zu sagen.", fügte Robin hinzu. Gemma wirkte überfordert und ich musste Robin recht geben, es war wirklich sehr viel auf einmal für Gemma. "Ich fasse kurz zusammen. Das Mädchen, was Harry seit einem Monat beobachtet, ist hier und stumm. Sie kommt aus dem Heim und ihr wollt sie adoptieren.", wiederholte Gemma die wichtigsten Punkte. Wir nickten zustimmend. "Wir können kein wildfremdes Mädchen aufnehmen.", sagte sie zweifelnd. Ich seufzte. Irgendwie hatte ich diese Reaktion von ihr erwartet. "Du weißt, wie sie über das Heim sprechen. Es haben schon so viele gesagt, dass dort auch Gewalt angewendet wird. Ich möchte ihr helfen da heraus zu kommen.", brachte ich dasselbe Argument, was auch Robin zum Nachdenken gebracht hat. Plötzlich klopfte es leise an der Tür. Unsere Köpfe drehten sich automatisch zur nun geöffneten Tür. Dort stand sie mit noch immer aufgequollenen Augen und meinem für sie viel zu großen Pullover den Mum ihr angezogen hatte, damit sie aus ihren nassen Klamotten kommt. Sie stand da wie ein Häufchen Elend und ich brachte es kaum übers Herz sie so zu sehen. Gemmas Augen weiteten sich, während Mum aufstand und auf sie zu ging. "Geht es dir besser, Liebes?", fragte sie lächelnd. Vorsichtig nickte sie und schaute zu mir. Ich schenkte ihr ebenfalls ein beruhigendes Lächeln. Sie brauchte sich hier nicht zu fürchten. "Liebes, das ist mein Mann Robin und das meine Tochter Gemma. Harry kennst du ja schon.", erklärte Mum und zeigte nach und nach auf die jeweils angesprochene Person. Sie nickte wieder und lief langsam zu Robin hin, um seine ausgestreckte Hand zaghaft zu ergreifen, um sein Hände schütteln zu erwidern. Das Gleiche tat sie bei Gemma. Nun stand sie unbeholfen im Raum. Ich schob den Hocker aus der Ecke und zeigte ihr mit einer Geste, dass sie sich setzen könne. Schüchtern lächelte sie leicht und setzte sich auf den Hocker. Gemma hatte sie lange angesehen und drehte sich nun zu Mum und Robin. "Ich stimme zu.", sagte sie und begann zu lächeln. Erleichtert atmete ich aus. Dagegen wirkte sie nun ziemlich verwirrt aber auch neugierig. Mum lächelte ebenfalls erleichtert. "Liebes, wir haben gerade lange gesprochen und uns überlegt dich zu adoptieren. Ich weiß, es kommt sehr plötzlich, aber kannst du dir vorstellen hier zu leben bei uns?", fragte Mum sie nun. Sie riss erschrocken ihre Augen auf.

Sometimes you don't need words...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt