Kapitel 2

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Ich erinnerte mich an jene Nacht vor Sherlocks Tod.

Wir liefen durch die Gassen Londons. Mit Handschellen aneinandergefesselt und halb Scotland Yard hinter uns her.

Wir bogen um eine Ecke und erreichten einen hohen Zaun. Ohne langsamer zu werden lief Sherlock auf den Zaun zu, hielt sich an diesem fest, lief die Mauer ein Stück hoch, schaffte es rüber und landete auf der anderen Seite.

Jetzt gab es nur ein Problem. Ich war noch auf der einen Seite des Zauns, Sherlock auf der anderen und die Handschellen hatten sich natürlich nicht in Luft ausgelöst und ketteten uns noch immer aneinander.

„Sherlock, warte!", rief ich, während ich ihn zu mir heranzog, sodass wir eng beieinander standen. Plötzlich bemerkte ich, wie nah wir uns waren und hörte meinen Herzschlag unnatürlich laut, der schnell in meinen Ohren zu pulsieren schien. Ich atmete viel schneller als sonst und mein Blick blieb wie festgeklebt an den weichen, vollen Lippen des Detektivs hängen. Irgendwann löste sich mein Blick und haftete sich stattdessen auf seine wunderschönen Augen, die mich in ihren Bann zu reißen schienen.

„Wir müssen das ganze koordinieren", presste ich nach einer halben Ewigkeit hervor.

„Nein John. Wir überhaupt nicht", entgegnete der Detektiv mit einem, wie mir schien traurigen Gesichtsausdruck.

„Was meinst du damit?", fragte ich vollkommen verwirrt.

„Ich muss das alleine machen. Ich darf nicht zulassen, dass Moriarty dich in die Finger bekommt."

Warum zum Teufel war es ihm auf einmal wichtig, dass ich nicht in Gefahr war? Sonst habe ich ihn doch auch immer auf all seinen Fällen begleitet und mich mit ihm in Gefahr gebracht. Warum wollte er mich auf einmal nicht mehr dabei haben?

„Warum?", war das einzige was ich herausbringen konnte.

Plötzlich lagen die weichen, vollen Lippen, die ich noch vor wenigen Minuten angestarrt hatte auf meinen.

Ich war zu überrascht, um irgendetwas zu tun.

Als er sich schließlich von mir löste, schaute er mich aus traurigen Augen an.

„Darum", murmelte er. Dann hob er die Pistole und zielte auf die Handschellen, welche nach diesem Schuss zersprangen. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Sherlock um, verschwand in die Nacht und ließ mich verwirrt und völlig überfordert alleine zurück.

Danach hatte ich ihn nur noch einmal auf dem Bart‚s Hospital gesehen und mit ihm gesprochen. Allerdings war ich zu geschockt, um ihn auf den Kuss anzusprechen.

Er war gesprungen und ließ mich mit gebrochenem Herzen und tausend unbeantworteten Fragen alleine.

Die nächsten Tage nach Sherlock‚s Tod verbrachte ich, wie in Trance. Alles fühlte sich taub und unbedeutend an. Das einzige, was mich rund um die Uhr beschäftigte war, dass Sherlock nicht mehr am Leben war. Ich bekam kaum mit, wie mir von Lestrade Fragen gestellt wurden.

Die meiste Zeit saß ich in meinem Sessel, starrte den leeren Platz mir gegenüber an und hoffte, dass sich jeden Moment die Tür zu unserer Wohnung öffnete und Sherlock hereingeschneit käme. Doch nichts geschah. Der Sessel blieb leer. Ich war allein.

Mrs. Hudson kam jeden Tag ein paarmal rein und versuchte mich dazu zu bewegen etwas zu essen, oder wenigstens einen Tee zu trinken. Doch ich konnte nicht. Allein der Gedanke an Essen verursachte bei mir Übelkeit.

Nach ein paar Monaten zog ich aus der 221b Bakerstreet aus. Es war einfach zu viel. Den leeren Sessel zu sehen. Kein Geigenspiel um 1 Uhr nachts, keine Körperteile im Kühlschrank, keine Experimente auf dem Küchentisch. Leere. Stille.

Ich nahm einen Job im Krankenhaus an und arbeitete so viel, wie mein Körper es zuließ. Arbeit war für mich Ablenkung. Wenn ich nicht arbeitete, dachte ich über Sherlock und unsere gemeinsamen Fälle nach.

Und an jene Nacht.

Was wohl passiert wäre, wenn er nicht gesprungen wäre.

Aber darüber wollte ich nicht nachdenken. Der Gedanke daran war zu schmerzhaft.

Denn es zeigte mir etwas, was ich niemals haben werde.

Sherlock.

Nachdem fast ein Jahr vergangen war, lernte ich Mary kennen. Sie hatte einen Job im gleichen

Krankenhaus, wie ich angenommen und so kam es, dass wir uns fast täglich über den Weg liefen.

Irgendwann fragte ich sie nach einem Date. Sie sagte zu meiner Verwunderung zu und nach einem

Date folgte ein zweites und drittes und viertes. Es entwickelte sich nach und nach eine feste

Beziehung und irgendwann zogen wir zusammen.

Und das war der Tag, an dem diese Träume anfingen.

„John? John? Hörst du mich?", rief Mary, während sie an meiner Schulter rüttelte. „Hörst du mir eigentlich zu?"

„Hm? Was?"

„ Ich habe dich gefragt, was du glaubst, warum du solche Träume hast, immerhin wart ihr kein Paar."

Das war ein Schlag in den Magen. Ich wusste nicht wieso, aber ihre Worte taten mir weh.

„Ich weiß nicht. Ich vermisse ihn einfach schrecklich", brachte ich noch heraus, bevor ich anfing zu schluchzen.

„Aber John. Jetzt mal ganz ehrlich. Nur weil der beste Freund stirbt, bedeutet das noch lange nicht,
dass man auf einmal anfängt zu träumen, wie man diesen küsst!", rief sie langsam wütend werdend.

Gott sei Dank hatte ich Mary nicht alles erzählt, was manchmal noch geschah, außer, dass wir uns küssten. Dann wäre sie richtig sauer.

Auf einmal stand sie auf.

„Ich fahre über das Wochenende zu meiner Mutter. Sie hat mich gebeten, dass ich sie mal wieder besuchen komme und ich denke, dass diese Freizeit von einander uns beiden gut tut. Oder?"

Ich nickte nur, als Zeichen, dass ich sie verstanden hatte und zustimmte, bevor ich aufstand und mich anzog.

„Wo willst du hin?", fragte Mary leicht verwirrt.

„Es ist Donnerstag. Ich gehe arbeiten.", antwortete ich kalt und verließ die Wohnung.

Den restlichen Tag verbrachte ich im Krankenhaus und versuchte Mary aus dem Weg zu gehen.

Abends ging ich sofort schlafen und schlief sogar relativ schnell ein.

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