Kapitel 5

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Als ich am nächsten Tag aufwachte, war es bereits Nachmittag. Selbst in meinen Träumen suchte mich Sherlock heim und verhalf mir zu keinem erholsamen Schlaf.

Die Sonne schien unangenehm ins Schlafzimmer und so beschloss ich nach einer halben Stunde doch Aufzustehen, obwohl ich dazu überhaupt keine Lust hatte. Wozu sollte ich auch aufstehen? Seufzend erhob ich mich und rieb mir müde über die Augen.

Das Hemd von Sherlock legte ich feinsäuberlich wieder in den Karton, bevor ich mich auf den Weg ins Bad machte.

Der Tag war und blieb langweilig.

Kein spannender Artikel in der Zeitung.

Nichts.

Kurz kam mir die Idee, zu Mrs. Hudson zu gehen, doch ich ließ es bleiben. Es war zwar Samstag und sie hatte mich zwar gebeten, sie öfter zu besuchen, doch ich war bereits gestern bei ihr gewesen und ich würde ihr nur zur Last fallen, wenn ich auf einmal vor ihrer Tür stand.

Stattdessen schlug ich die Zeit damit tot, dass ich die Küche sauber machte, einkaufen ging und den Fernseher anmachte, nur um ihn 5 Minuten später wieder auszumachen.

Irgendwann hielt ich es in der Wohnung nicht mehr aus. Jacke und Schuhe waren schnell angezogen und wenig später stand ich auf den Straßen Londons. Ich beschloss irgendeine Richtung einzuschlagen. Jede war so gut, wie die andere und letztendlich hatte ich auch kein spezielles Ziel vor Augen, sondern versuchte mich mit meinem Herumgelaufe nur auf andere Gedanken zu bringen.
Dies schlug gedoch komplett fehl. Überall sah ich Sherlocks Gesicht. Jeder Fremde trug sein Gesicht, ständig meinte ich, seine Stimme zu hören. Selbst die Straßen, durch die ich willkürlich lief erinnerten mich an ihn. Wie oft waren wir diese herauf oder hinunter gelaufen, als wir einem Verbrecher auf der Spur waren? Wie oft waren wir in diesem oder jenem Laden gewesen? Wie oft?...

Ich verlor mich in der Umgebung, in den Personen, in meinen Gedanken und letztendlich auch in mir selbst. Ich erkannte mich selber nicht wieder. Mechanisch wanderte ich von einer Ecke Londons zur nächsten und wurde von Erinnerungen an Sherlock überschüttet. Ich bemerkte gar nicht, wie sich der Tag immer mehr dem Ende neigte.
Es war bereits dunkel und noch immer wanderte ich, wie verirrt umher. Letztendlich stimmte dies sogar. Ich hatte mich verlaufe. Verlaufen auf dem Weg des Lebens. Ich wusste nicht mehr weiter, keinen Schritt vor und keinen zurück. Alles wirkte eintönig und fad, unbedeutend, leblos. Ich war leblos. Ohne Freude und ohne Antrieb.
Schließlich stand ich wieder vor meiner Haustür und hatte keinen Schimmer, wie ich hier überhaupt hergekommen war.

Seufzend trat ich ein und machte das Licht an. Nach einem prüfenden Blick auf die Uhr beschloss ich, einfach ins Bett zu gehen und ging ins Schlafzimmer.

Ich nahm mir wieder eines, der Hemden aus dem Karton und schlief mit Tränen in den Augen ein.

Sonntag.

Mary kommt heute von ihrer Mutter zurück.

Toll.

Sollte man sich nicht eigentlich freuen, wenn die eigene Freundin wiederkommt?

Doch das war bei mir nicht der Fall.

Ich würde lieber mit Mrs. Hudson in der Bakerstreet sitzen oder irgendetwas anderes machen. Alles, solange es nur nichts mit Mary zu tun hatte. Dieser Gedanke machte mich traurig. Ich hatte ihr so viel zu verdanken und dennoch konnte ich ihre Anwesenheit nicht ertragen, jedenfalls nicht auf die Art und Weise, welche sie sich wünscht.
Ich hatte das Gefühl, dass ich damit Sherlock betrügen würde, obwohl dies natürlich kompletter Schwachsinn war. Wütend stapfte ich in der Wohnung auf und ab und kam mit meinen Gedanken auf keinen grünen Nenner, als plötzlich mein Handy klingelte.

„Hallo?", fragte ich.

„John. Ich bin es, Mary. Ich stecke im Stau und komme später nach Hause."

„OK. Was glaubst du denn, wie lange es dauert?"

„Keine Ahnung. Schwer zu sagen. Ich denke vielleicht 5 Stunden."

„Alles klar. Lass dir Zeit. Mach ruhig eine Pause. Ich weiß ja, dass es dir gut geht."

„OK, mach ich. Bis später. Hab dich lieb."

„Ja, bis später."

Dann legte ich auf.

Ich fühlte mich schuldig.

Ich konnte ihr nicht einmal sagen, dass ich sie liebte, das hatte ich noch nie getan...

Verdammt. Warum musste alles immer so kompliziert sein?!

Um einen klaren Kopf zu bekommen, ging ich, wieder einmal raus und lief genau wie gestern ohne irgendein Ziel durch die Gassen Londons. Ich achtete nicht auf meine Umgebung und fand mich letztendlich vor den Toren des Friedhofs wieder.

Ich erschauderte.

Es war lange her, seit ich das letzte mal hier gewesen war.

Sollte ich es wirklich tun?

Nach ein paar Minuten hin und her, betrat ich den dunkel wirkenden Friedhof und blieb vor dem Grab meines besten Freundes stehen.

Ich stand lange Zeit nur da und sagte nichts.

Dachte an unsere gemeinsame Zeit.

Und schließlich brach der Damm. Ich redete und redete und konnte nicht mehr aufhören.

„Oh Sherlock! Warum kannst du nicht einfach am Leben sein? Ich fühle mich so leer ohne dich. Ich will nicht mehr ohne dich sein. Was soll ich denn ohne dich machen?"

Noch lange sprach ich mit gesenktem Blick zu dem Grab. Ich redete und redete und hoffte auf ein Wunder, welches auch nach all dieser Zeit, in der Sherlock schon tot war, nicht passiert war. Niemand würde mich jemals davon überzeugen, dass Sherlock gelogen hatte, dass er Moriarty erfunden hatte. Ich hatte denn echten Sherlock kennengelernt. Ich wusste, wie er wirklich war.

Schließlich hob ich Kopf den, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und riskierte einen Blick auf die Uhr.

Mein Gott! Ich musste nach Hause. Mary müsste bald wieder da sein.

So machte ich mich schweren Herzens und tief in Gedanken auf den Rückweg.

Es dämmerte bereits und alles wurde orange-rot angestrahlt. Die Häuser, die Menschen, der Himmel. Die Welt sah in diesem Licht immerganz anders aus. Friedlicher und schöner.

Und ich befand mich mitten drin in diesem Farbenwirrwar, welches nur zu gut meine Gefühle widerspiegelte. Ein wildes Durcheinander, welches sich ständig veränderte und dennoch wiederholte.

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