Chapter Twelve: Thomas

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Mittwoch, Donnerstag und Freitag waren vorüber gegangen ohne Besonderheiten. Ich hatte wenige Vorlesungen gehabt und Vicky und Olive so gut es ging gemieden. Jennifer hatte es nach einigen Versuchen zum Thema Aidan endlich aufgegeben etwas Vernünftiges aus mir heraus zu bekommen. Den Gastdozenten hatte ich auch nicht mehr gesehen, was ich aber auch nicht erwartet hatte. Warum sollte er sich auch an der Uni aufhalten, wenn er keine Vorlesungen zu geben hatte? Ich musste mir jedoch eingestehen, dass ich den Unterricht, heute nach nur vier Tagen schon vermisste.

Es war Samstag Morgen und ich sollte Liam dabei helfen Sachen für die Party, die heute Abend anstand zu kaufen. Ich willigte ein, denn ich hoffte so endlich mal auf andere Gedanken zu kommen, wenn ich auch nicht begeistert war schon wieder zu feiern. Davon dass sie auch wieder Aidan eingeladen hatten, hatten sie nichts gesagt. Einerseits war ich erleichtert, doch tief in mir Drinnen sehnte ich mich danach ihn wieder zu sehen.

Vor zwei Tagen war ich endlich bereit gewesen die Leugnungsphase hinter mir zu lassen. Ich konnte mir nicht länger selbst etwas vorlügen, wenn ich mir immer wieder gesagt hatte, dass ich nicht das geringste Interesse an dem Dozenten hatte. Denn so war es nicht. Er hatte es mir angetan. Auch wenn ich diese Gefühle nicht akzeptieren würde, so wusste ich doch, dass es das erste Mal nach zwei Jahren in Amerika war, dass mich eine Person wirklich interessierte und zwar so brennend, dass ich nur bei dem Gedanken an ihm widerliche kleine radschlagende Schmetterlinge im Bauch hatte. Jedes Mal wenn ich diese dumme Schatulle auf dem Nachttisch sah, die dort stehen würde bis ich sie ihm an Montag wieder geben konnte, kribbelte meine Haut ganz merkwürdig. Irgendetwas zog mich immer wieder zu diesem Kästchen hin, doch egal wie oft ich es öffnete, es blieb stets leer.

Der Einkauf war schnell vollbracht und in unserem Garten entstand Schritt für Schritt ein kleiner Freizeitpark. Reichen Kindern war auch nichts zu teuer!

Neben dem Pool war eine lange Rutsche aufgebaut worden, in einer Ecke am Zaun auf der riesigen Wiese stand ein Trampolin, ein Tischkicker und andere Spielautomaten, der linke Bereich war eher dem Sport gewidmet. Ein Boxring stand dort herum, daneben lagen riesige dick gepolsterte Anzüge, die die Träger in Sumoringer verwandeln würden und ein Stück daneben hatte Cole einen Schießstand aufgebaut. Mit Pfeil und Bogen. Ob mir das so recht gefallen wollte, wusste ich noch nicht. Daheim in London war ich jahrelang in einem Bogenschützenverein gewesen und hatte auch recht erfolgreich an Turnieren teilgenommen. Doch ein tragischer Unfall, den ich immer noch versuchte zu verdrängen, hatte mich dazu gebracht den Sport für immer auf Eis zu legen. Deswegen weigerte ich mich auch etwas zu forsch, als Liam mich aufforderte doch auch mal zu schießen, bevor die Gäste kamen und ich nicht mehr die Chance dazu bekam. Sie wussten nichts von der Geschichte und dass ich eigentlich richtig schießen konnte und ich wollte es ihnen auch jetzt nicht erzählen, denn ich hatte keine Lust alles zu erklären, doch tat er mir doch etwas leid, als ich sehr unfreundlich werden musste. Ein einfaches Nein genügte selten bei meinen Freunden.

Der Tag verging, die Gäste kamen. Ich hockte mich an den Pool und nippte an meinem Cocktail. Neben mir saßen – wie immer – knutschend Liam und Jen. Alle anderen Freunde waren weit verteilt und so hatte ich genügend Freiraum das ganze in Ruhe zu betrachten, bis Cole auf einmal hinter mir stand.

"Komm ich will dir was cooles zeigen", er streckte seine Hand aus und ich ergriff sie. Eigentlich hatte ich keine Lust aufzustehen und es war bestimmt nur wieder eine alberne Idee, die ihm in den Kopf gekommen war, doch wollte ich auch keine Spaßbremse sein.

Und ich sollte natürlich recht behalten. Er zog mich leider zum Schießstand und schob mich vor sich. "Schau mal, Dylan macht einen auf Robin Hood", grinste er. Dylan war ein Kumpel aus Coles Chemiekurs, den ich flüchtig kannte. Er war groß, muskulös und gehörte zu der Art Jungs, die sich zum Spaß schon mal gerne prügelte. Freunde würden wir deswegen schon alleine niemals werden, doch was er jetzt tat, ließ mich fast ausflippen.

Die 'coolen' Jungs hatten sich einen der eher weniger beliebten Studenten geschnappt und vorne vor die Scheibe gestellt. Auf seinem Kopf lag ein roter Apfel. Dylan hob den Bogen an.

"Dylan hör sofort auf mit dem Scheiß, du wirst ihn noch verletzen", schnautzte ich ihn an und packte den Bogen neben seiner Hand am Mittelstück, um ihn am Abschießen zu hindern.

"Hey Cole, hol mal deine Freundin hier weg, die verdirbt noch alles."Cole wollte mich wegziehen, doch mir ging das hier viel zu weit, das war kein Spiel mehr. Er würde mit Sicherheit nicht treffen nicht einmal wenn er nüchtern wäre, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Ich warf einen Blick auf den armen Jungen, der unsicher wie ein Häufchen Elend sich nicht einmal traute davon zu rennen und stieß meinen Freund zurück. "Nimm sofort den Bogen runter Dylan, oder...", schrie ich nun. "Oder was?", unterbrach mich dieser und hob erneut den Bogen an. Cole umklammerte mich und ich konnte tun was ich wollte, ich kam nicht frei. Dylan spannte die Sehne, schloss ein Auge. Ich sah wie er vor Anstrengung zitterte. Ich schrie und zappelte wie wild, es war mir in diesem Moment vollkommen egal, was alle von mir dachten. Ich musste diesen Wahnsinn stoppen, denn keiner sonst schien zu realisieren wie gefährlich das war. Und dann ließ Dylan den Pfeil samt Sehne los. Ich wartete mit geschlossenen Augen auf einen Schrei, Schock, Panik. Doch stattdessen vernahm ich Jubel. Coles Griff lockerte sich und ich machte mich frei. Dylan hatte den Apfel perfekt in der Mitte getroffen, doch das war mir vollkommen egal. Wie konnte Cole nur so etwas tun? Mich festhalten, meines eigenen Willens berauben, als wäre ich ein kleines Kind. Zu allem Überfluss kamen nun auch noch die Erinnerungen, die ich so sehr verdrängen wollte hoch. "Wie konntest du nur?", schrie ich nun Cole mit Tränen in den Augen an. Er schien gar nicht zu regristrieren, was mein Problem war. "Elaine, was....", begann er. Doch ich stieß ihn einfach nur beseite und rannte über die Terrasse ins Wohnzimmer hinauf in mein Zimmer. Er folgte mir. Doch war ich schneller und nachdem er einige Minuten vergebens an meiner Tür geklopft hatte, ging er wieder.

Ich hingegen konnte kaum Atmen, so umpulsiv und schmerzhaft kamen die Erinnerungen in mir hoch. Panisch warf ich mich auf mein Bett, das ich durch den Tränenschleier kaum sehen konnte. Ich sah Thomas wieder vor mir, meinen ersten richtigen Freund, wie er den Apfel auf dem Kopf hatte, diese widerlichen Jungs, meinen Bogen, das Blut. Ich konnte praktisch die Sirenen des Krankenwagens wieder hören und die Schreie von Thomas' Mutter als sie eintraf. Niemand war da, der mich in diesem Moment trösten konnte. Ich wünschte jemand wäre hier, dem ich vertrauen konnte. Wäre ich nicht vollkommen unter Menschen, von denen ich keinen einzigen hier bei mir haben wollte. Doch ... Das Kästchen. Auch jetzt schien es nach mir zu rufen und es erinnerte mich an Aidan. Der einzige, der etwas Positives auf mich übertragen könnte. Der Nichts mit dem all hier zu tun hatte.

Ich griff nach der Schatulle und strich wie sonst auch über den Deckel. Wie schon fast Gewohnheit öffnete ich den Deckel und schlug ihn erschrocken wieder zu. Für eine kurze Sekunde war mein Zimmer in andere Farben getaucht gewesen. Ich blickte mich um. Die Rolläden waren fast vollkommen unten, nur leichter warmer Schein des Lagerfeuers schien durch die Ritzen. Es gab keine großen Veränderungen was Helligkeit anbelangte. Also öffnete ich erneut das Kästchen und fand mich in London wieder.

Ein Regentag. Das Licht war grau und kalt. Wie in den Unterrichtsstunden vorher, befand ich mich direkt im Geschehen. Um mich herum liefen Menschen mit bunten Regenschirmen. Rote Busse fuhren an mir vorbei, in der Ferne erkannte ich den Big Ben. Doch plötzlich erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Da war ein Schirm in der Menge, darunter ein Mädchen und ein Junge, die ich nicht genau erkennen konnte. Doch das war mein Regenschirm. Meiner. Es konnte nur diesen einen geben. Denn Thomas hatte ihn speziell für mich anfertigen lassen zu meinem 18. Geburtstag. Ich hatte die bunten Herbstblätter sofort wiedererkannt. Mitten darin stand eine wunderschöne alte Bank, auf der wir unseren ersten Kuss gehabt hatten. Thomas war damals alleine erneut dort hingegangen und hatte mir zum Einjährigen diesen Schirm mit einem Foto von diesem Ort darauf geschenkt. Wie gerne würde ich die Menschen unter den Schirm sehen, dachte ich und schon veränderte sich die Situation nach meinem Wunsch. Ich konnte sie sehen. Mich sehen und Thomas. Mein altes Ich und er kamen direkt auf mich zu. Ich hatte eine Zuckerwatte in der Hand. Er lachte.

Fassungslos klappte ich den Deckel mit einem Ruck wieder zu. Das war ich gewesen. Das verdammte Ding konnte irgendwie meine Erinnerungen zeigen.

Ragnarök - Frühlingssonne✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt