Juan

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Gegenwart, Tural Sobrena, Oktober

Wenn Juan geradeaus schaute, sah er glückliche Spaziergänger vorbeigehen, manchmal sahen sie ihn abschätzend an, manchmal mitleidig. Auch spielende Kinder liefen vorbei, sie beachteten ihn meistens gar nicht, aber ab und zu kamen auch Leute, die mit ihren Hunden Gassi gingen vorbei. Meistens stand der Wind auch noch richtig, sodass die Hunde ihn riechen konnten. Dann liefen sie immer mit wedelnden Schwänzen auf ihn zu und die jeweiligen Besitzer probierten sie mit aller Kraft von ihm weg zu ziehen, aber es gelang ihnen oftmals nicht. Gerade kam ein großer, schwerer Schäferhund auf ihn zu gerannt. Die zierliche junge Frau, die ihn an der Leine hielt wurde fast vom ihm umgerissen, wenn sie nicht hinterherlief.

„Tommy! Bleib stehen!" rief sie, doch Tommy rannte fast die besprühte Bank um, auf der Juan saß. Er sprang Juan an und wedelte wie wild mit dem Schwanz.

„Tommy! Nein! Komm zurück!" Doch Tommy schnupperte an Juan von oben bis unten. Juan konnte ihn auch riechen, wahrscheinlich war er gerade eben im Fluss, der quer durch den Park lief, schwimmen gewesen. Es war fast unmöglich, das nicht zu riechen.

Juan konnte das Alter von Menschen nicht gut schätzen, aber als die junge Frau näher kam sah er, dass sie höchstens siebzehn Jahre alt war. Auf keinen Fall älter als Juan. Sie hatte rote Strähnen in den Haaren, drei Ohrringe in beiden Ohren und hielt das flache, rechteckige Ding worauf sie beim Spazieren immerzu starrte, fest in ihrer Hand. Kein Wunder, dass sie Tommy nicht halten konnte.

Tommy schnüffelte nun an seinem Gesicht und Juan schnupperte zurück. Dem Hund gefiel es. Er leckte ihn an der Nase ab. Juan lächelte. Das hatte er lange nicht mehr getan.

„Was machst du Penner da?! Hör auf an meinen Hund zu schnüffeln!" Sie schrie noch immer obwohl sie genau vor ihm stand. Das Kaugummi in ihrem Mund viel fast heraus. War sie etwa sauer? Wieso denn?

„Aber ihm gefällt es doch. Schau doch, wie er sich freut." sagte Juan und deutete auf Tommys wedelnden Schwanz.

„Ihm gefällt es ganz sicher nicht von einem obdachlosen, stinkenden Penner beschnüffelt zu werden." Mit einem Ruck zog sie an Tommys Leine, doch der rührte sich nicht. Stattdessen fiel sie mit einem Kreisch nach hinten auf den Po und das kleine Rechteck fiel aus ihrer Hand. Juan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Du blöder Penner!" Sie stand auf und strich sich den Dreck vom Hintern. „Das ist deine Schuld, dass ich hingefallen bin! Du kleiner verfickter Bastard!" Sie strich sich ihre glatten, dünnen, gefärbten Haare aus dem Gesicht und schaute hektisch umher.

„Wo ist mein Handy?!" Schnell hob sie ihr kleines, rechteckiges Handy auf und schob es sich erleichtert in die Hosentasche. Mittlerweile hatte Tommy aufgehört, Juan abzuschlecken und schaute das Mädchen mit schiefem Kopf an. Sie sah Juan von oben herab an und spuckte ihm ihr Kaugummi vor die Füße. Dann zog sie abschätzig an der Leine und ging stramm weiter. Mit einem leisen Winseln folgte Tommy ihr.

Juan starrte das Kaugummi auf dem Boden an. Alleine lag es zerknautscht und weiß auf dem braunen Boden. So allein wie er, und auch so anders, wie die anderen Menschen um ihn herum. Einfach, weil er nirgends wohnte und niemanden kannte. Er gehörte nicht zu der Menge. Und das Kaugummi gehörte nicht auf den Boden. Juan hob es auf und warf es in den Mülleimer neben der Bank. Mit einem Seufzer ließ er sich wieder auf die Bank fallen.

Alle Leute, die mit ihm sprachen, und das waren nicht viele, nannten ihn Bettler oder Obdachloser. Die Jugendlichen, die nachts im Park umhergeisterten, lachten über ihn als Penner. Dabei bettelte er nicht, er hatte nur kein Zuhause. Eigentlich ja schon, aber er wusste nicht, wie er dorthin zurückkam. Es war nicht gerade schön da, aber dort hatte er wenigsten Freunde; und er gehörte zur Menge. Bis er den Weg zurück kannte, musste er weiterhin auf dieser öffentlichen Parkbank schlafen. Eine andere Option fand er hier nicht, hier in Tural Sobrena.

WolfsschreiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt