Lin

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Gegenwart, Tural Sobrena, Oktober

Tural Sobrena war für Lin schon immer ein faszinierender Ort. Die Berge, gemischt mit einem endlosen Wald, gefüllt von Mythen und Geheimnissen, so wie das weite Meer, das geschmückt von Steinen und weichem Sand das Ufer küsste. Der Wind sang, während die Blätter mit ihm durch die Stadt tanzten. Es scheint klein und geborgen, doch in der Nacht rappelt sich alles auf und wird zu einem vibrierenden Fest. Dennoch kann man sich von der Menge entfernen und den wunderschönsten Sonnenuntergang erblicken, den man auf Erden sehen kann. Die kleinen Hügel des Parks haben immer einen Platz frei für die Menschen, die sich für ein Picknick versammeln und hoch in die Wolken blicken, um das Schauspiel der Natur zu erleben. Wo auch immer man hinschaute, war etwas Neues zu sehen und trotzdem blieb es doch heimatlich und familiär.

Es gab noch so viele Orte zu entdecken, die noch keiner erblickt hat. Lin malte sich im Kopf aus, wo sie als nächstes hingehen würde. Die Ampel schlug auf Grün und Lin drückte aufs Gas. Aus dem Augenwinkel sah sie die Palmen an ihr vorbeisausen. Die Sonne breitete sich auf dem Himmel aus. Wolken flogen an der strahlenden Sonne vorbei. Lins Sonnenbrille rutschte ihr etwas von der Nase, als sie eine Hand vom Lenkrad nahm, um eine der Kokosnuss Stückchen von Lessras Schoß zu ergattern. Sie schob sich die Brille wieder mit ihrem kleinen Finger auf die Nase und steckte sich das Kokosnussstückchen in den Mund. Dabei klopfte sie mit ihrem linken Zeigefinger auf das Lenkrad im Rhythmus der Musik, die im Radio lief. Lin sah, wie Lessra anfing, in ihrer Tasche zu wühlen, wobei sie fast die Box mit Kokosnussstückchen fallen ließ. Sie fand, was sie gesucht hatte. Ein riesiges Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Stolz hielt sie ihr frisch gefundenes Handy hoch, als ob sie ein Schatz gefunden hätte. Lin schnaubte bei dem Anblick, kam aber nicht drum rum, dass ein kleines Lächeln sich auf ihr Gesicht schmuggelte. Es war mal wieder so typisch von Lessra. Sie kannten sich jetzt schon seit vier Jahren. Sie hatten vor vier Jahren dieselbe Schwimmmannschaft besucht und waren seitdem Freunde. Zwei Jahre danach hatten sie sich entschieden, auf das Surfen umzusteigen, obwohl beide keine Ahnung davon hatten. Von diesem Moment an, fuhren sie regelmäßig von Strand zu Strand, um auf den Wellen zu reiten. Jetzt starrte Lessra intensiv auf ihr Handy und wartete auf eine Nachricht.

„Wird dir nicht schlecht, wenn du die ganze Zeit im Auto nach unten guckst?" fragte Lin, ohne von der Straße wegzugucken. Lessra hörte ihr offensichtlich nicht zu, da sie in dem Moment aufgeregt auf ihr Handy tippte. Sie wedelte hektisch mit einer Hand und entließ ein paar komische Geräusche, als sie versuchte, nicht an einem Kokosnussstück zu ersticken. Als sie runtergeschluckt hatte und ein paar tiefe Atemzüge machte, streckte sie die Hand aus und drehte das Radio leiser, sodass man nur noch ein Murmeln hörte.

„Hör dir das an." befiel sie, ohne ein Wort über ihren kleinen Unfall zu verlieren. „Ich gehe heute zu einer kleinen Party am Strand. Es wäre cool, wenn du mal vorbeischaust." las sie vor. „Was soll ich ihm sagen... Ich muss etwas warten, bevor ich antworte, sonst denkt er noch, ich wäre zu einfach zu kriegen."

„Willst du mich nicht erst fragen, ob ich damit okay bin, dass du mich alleine lassen willst?" erwiderte Lin gespielt empört.

„Och, komm." Lessra griff nach Lins freier Hand und guckte sie bettelnd an. Ihre Augen wurden kugelrund und erinnerten Lin an einen süßen kleinen Welpen. Genauso manipulierte Lessra ihre Eltern immer, sodass sie ihr ganzes Leben lang verwöhnt wurde. „Du kannst doch mitkommen. Einmal schadet doch nicht. Letztes Mal bist du auch nicht mitgekommen. Außerdem schuldest du mir noch etwas!" Sie zeigte vorwurfsvoll mit ihrem Finger auf Lin und wedelte ihn wild vor ihrer Nase herum.

„Seit wann schulde ich dir etwas?" fragte Lin grinsend.

„Seit du nicht auf Sams Hausparty gegangen bist, obwohl du versprochen hattest, dass du kommen würdest." Lin runzelte die Stirn. Ja, stimmt, das war echt ungünstig auf Lin zugekommen.

„Ich habe dir doch gesagt, dass etwas dazwischengekommen ist."

„Etwas.. oder vielleicht jemand?" Lessra grinste und stupste Lin mit dem Ellbogen an. Lin bewunderte immer Lessras Fähigkeit, vollkommen rücksichtslos zu sein. Sie verlor wahrscheinlich keinen Gedanken daran, dass es nicht die beste Idee wäre, eine Person anzustupsen, die gerade am Lenkrad saß und sie in den Tod fahren könnte, wenn sie die Konzentration verliere.

„Ja, ja. Ich habe einen richtig süßen Jungen gesehen, der mich zum Essen eingeladen hatte."

„Ernsthaft!"

„Nein." Lin grinste sie spitzbübisch an und drehte das Radio lauter, bevor Lessra sich beschweren konnte.

„Die Familie des 50-jährigen Joffe Krisbes versammelt sich heute zur Trauerfeier. Es werden auch weitere Menschen erwartet, so wie auch die Trauernden des letzten Todesfalls. Präsidentin Sikney Jisbern sprach den Trauernden ihr Mitgefühl aus und versicherte, dass Verstärkung zum Polizeirevier unterwegs sei, um noch mehr in den Todesfällen zu ermitteln. Die Leiche wurde vor drei Tagen am Kokopalm Strand gefunden." berichtete der Radiosprecher. Lessra schaltete auf einen anderen Sender. „Over the Rainbow" von Israel Kamakawiwo'ole ertönte.

„Das ist so gruselig..." Lessra zitterte. „Hast du gehört, vor Jahren soll ein Serienmörder nach Tural Sobrena geflohen sein. Die Polizei hat ihn auf der ganzen Insel gesucht, aber konnte ihn angeblich nicht finden. Ein paar behaupten, sein Geist würde Unterwasser auf wahllose Menschen warten und sie runter in ihren Tod ziehen..." Lin drehte sich zu ihr und sah ihr angespanntes Gesicht.

„Du glaubst doch wohl nicht daran?" fragte Lin ironisch. Aber innerlich spürte sie, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Lin war sich sicher, dass es Geister gab. Es könnte tatsächlich eine Möglichkeit sein...

„Du kennst doch Sams Freundin."

„Ja..?"

„Sie und Sam sind an dem Tag vor dem Umfall auf Kokopalm gewesen. Als die beiden schwimmen waren, ist sie angeblich plötzlich völlig ausgerastet und hat wie am Spieß geschrien. Als man sie später gefragt hatte, was passiert war, sagte sie nur, sie hätte eine Hand an ihrem Beim gespürt, die sie runterziehen wollte."

„Du verarschst mich. Wieso sagst du ausgerechnet jetzt sowas?"

„Hast du etwa Angst?" Jetzt grinste Lessra Lin an. Das Schild des Pocano Strand tauchte in der Ferne auf. Lin setzte den Blinker. Sie blieb für einen Moment still.

„Nein." erwiderte sie leise. Doch Lin war sich nicht sicher, ob sie sich selbst glaubte. Lessra hörte ihr sowieso nicht zu.

„Ach es sind eh nur schlechte Nachrichten. Die gibt's es jeden Tag. Sie haben es wohl darauf abgesehen, uns die Laune zu verderben, oder? Jetzt haben die sogar Kokopalm Beach gesperrt. Ausgerechnet dort, wo die Wellen am besten sind!" beschwerte sich Lessra lautstark. Sie schüttelte sich kurz, als ob sie versuchte, die schlechten Nachrichten abzuschütteln. Von einem Moment auf den anderen war sie wieder völlig auf ihr Handy konzentriert.

Ein übles Gefühl überfiel Lin, als das Auto in die Einfahrt der Parkplätze abbog. Sie fuhren an den Reihen von Parkplätzen vorbei, die allesamt besetzt waren. Lin ahnte schon, dass nicht sehr viel Platz zum Surfen sein würde. Es gab ein paar freie Plätze zwischendurch, nur waren diese zu klein für sie. Sie fuhr weiter, bis sie endlich einen freien Parkplatz entdeckte, wo sie reinpassen würde. Das Auto hüpfte ein bisschen, als Lin es parkte und den Motor ausschaltete. Sie zog den Schlüssel aus dem Auto, an dem ein Surfbrett Anhänger mit einer aufgemalten Meerjungfrau hing. Schnell quetschte sie diesen in ihre Hosen Tasche.

Die Autotür quietschte, als Lin sie auf stoß und heraussprang. „Wir sind da, Lessy!" rief sie ins Auto ohne zurück zu sehen. Sie hörte nur ein leises Murmeln, bevor sie die Autotür zuknallte. Lin steuerte direkt auf die Surfbretter zu. Mit einem Hieb hob sie das Surfbrett von hinten auf einen Arm und die Strandtasche auf die andere. Sie versuchte sich abzulenken. Doch das mulmige Gefühl ließ sie nicht los. Lessra ließ sich ganz schön viel Zeit. Sie ließ ihren Blick hoch in den Himmel gleiten. Die Wolken erinnerten sie an Zuckerwatte, sodass sie ihre Hand austrecken und danach greifen wollte. Doch das Problem war, dass sie erstens zu weit weg vom Himmel war und zweitens keine Hand frei hatte. Lessra musste unbedingt noch etwas zu Ende tippen. Ihr Blick war an ihr Handy geheftet, während sie versuchte, gleichzeitig ihr Surfbrett herauszuholen. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens, machten sie sich geparkt und gepackt auf dem Weg zum Strand.

WolfsschreiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt