Gegenwart, Tural Sobrena, Oktober
Wenn der Mops noch näher ans Wasser trottet, wird er nass, dachte sich Callida, als sie den Strand in der Ferne beobachtete. Kaum hatte sie das gedacht, berührte der kleine, faltige Mops mit seinem Pfötchen eine schaumige Welle und rannte erschrocken mit heraushängender Zunge davon. Er hechelte weiter hinter seinen Besitzern her und Callida wusste, dass er wohl nie wieder von seiner Neugierde zum Meer gelockt werden würde. Er hatte gelernt.
Die Aussicht von ihrem Balkon war atemberaubend. Ihre Schwester Lin und sie hatten riesiges Glück gehabt, dass ihr Vater dieses Haus vor Jahren gekauft hatte, bevor die Preise hier an der Küste von Tural Sobrena gestiegen waren. Häuser mit Blick auf den Strand waren momentan so gefragt wie nie, doch die Regierung von Turena - so, wie die Einheimischen es manchmal liebevoll nannten - wollte keine Häuser hier an Leute verkaufen, die nur zum Sommerurlaub hierhinreisten und sich in den kälteren Monaten wieder aus dem Staub machten. Callida fand, das war eine gerechtfertigte Regel und es war schön, in seiner Umgebung feste Bekanntschaften zu haben, als nur welche, die im Sommer da waren.
Callidas Blick wanderte über das endlose Meer, auf dem sich die morgendliche Sonne spiegelte. Kein Segelboot war heute auf dem Wasser, keine Surfer, keine Schwimmer. Es war ja schließlich Herbst. Die Temperaturen des Wassers fielen schnell, während aber die Wärme in der Luft nur langsam verschwand. Callida konnte nicht genau sagen, welche Jahreszeit sie am liebsten mochte, denn hier in Tural Sobrena war es immer schön. Es war für sie einfach der perfekte Ort. Und das hier war der perfekteste Apfeltee, den sie je getrunken hatte. Sie musterte die Tasse in ihren Händen und dann das kleine Schild, was am Teebeutel befestigt war: „Rosie's Sweet Apple Tee, a warm spark in the cold". Callida runzelte ihre Stirn. Dafür, dass dieser Tee unglaublich lecker war, regte sie sich trotzdem über ihn auf. Warum mussten immer alle Firmen ihre Produkte Englisch benennen, wenn hier doch gar nicht Englisch gesprochen wurde? Fanden sie das etwa „cool"? Das waren Themen, über die Callida sich ständig aufregte und Lin lächelnd den Kopf schüttelte: „Ach, Cali, du machst das immer..."
Lin. Sie wollte mit ihrer Freundin surfen gehen, doch, wie es aussah, war das Wasser heute einfach zu still. Callida konnte sich irgendwie selbst nicht so sehr dafür begeistern. Sie fand es natürlich genial, nah am Meer zu wohnen und schwamm auch morgens gerne, wenn es warm genug war, aber Surfen war einfach nicht ihr Ding. Natürlich konnte sie verstehen, warum Lin einfach alles, was mit Wasser zu tun hatte, liebte. Das tat ihre Mutter ja auch. Lin würde heute bestimmt noch lange weg sein.
Ach, egal. Callida hatte sowieso heute Lust sich zu entspannen und einfach nichts zu tun. Sie war vorgestern Abend spät nach Hause gekommen, weil ihr Flieger aus Jordanien erst um zehn gelandet war und gestern musste sie noch früh ihren Bericht bei Dr. Schubert abgeben, um an diesem Tag dann auch noch die komplette Spätschicht zu übernehmen, da die Blutbankreserven nun vom alten ins neue Haus verlegt wurden, war das restliche Personal damit beschäftigt, zu sortieren und zu beschriften. Dabei war sie nur Auszubildende! Verständlicherweise war sie heute todmüde und wollte an diesem Sonntag so richtig ausspannen.
Morgen hatte sie nur Uni und am Mittwoch musste sie erst wieder ins Krankenhaus. Obwohl es echt anstrengend war, war Callida glücklich, dass sie für dieses duale Studium angenommen wurde. Es bestand aus gleich vielen Stunden Vorlesungen und Arbeitsstunden als Azubi im Krankenhaus, um Praxis zu sammeln. Ihr Ausflug nach Jordanien war Teil davon. Sie musste eine „initiativezeigende Aktivität" erfüllen und ging deswegen mit ein paar Kollegen drei Wochen lang zu Ärzte ohne Grenzen. Es war echt anstrengend gewesen, aber auch lehrreich. So wusste Callida jetzt, dass sie Forschung wohl doch eher bevorzugte, als Behandlung.
Der Mops war mittlerweile schon mit seinen Begleitern weggetrottet und Callida ging wieder hinein. Sie räumte die Reste ihres Frühstücks weg und zog sich an. Sie wollte noch schnell raus in die Stadt und sich umschauen. Sie nahm ihr abgewetztes Notizbuch in die Hand und ihre Strickjacke. Die alte Maleficus hatte ihre Theorien noch verstärkt.
Vielleicht konnte sie Lin ja heute Nacht noch was Interessantes berichten.
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Wolfsschrei
FantasyWas versteckt sich hinter den Bäumen? Wer blickt durch die Spälte der Blätter? Wer verfolgt unser jeden Schritt? Welche Kreaturen leben unter uns Menschen? Finde es heraus... Juan sucht seinen Weg zurück nach Hause, wo ihn aber niemand mehr liebt. P...