Juan

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Gegenwart, Tural Sobrena, Oktober

Bevor Juan nach Tural Sobrena kam lebte er seine vorherigen einundzwanzig Lebensjahre und sechs Monate allesamt in seiner Heimat. Er konnte noch immer den Wind in seinen Haaren spüren, die grünen Blätter im Schein der Sonne sehen und Julians Lachen neben sich hören. Julian, wenn Juan an ihn dachte, bekam er schrecklich Heimweh. Auch, wenn er sich Zuhause nicht immer verstanden fühlte, fühlte er sich bei Julian immer wohl und akzeptiert. Das sollte auch bei einem besten Freund nicht anders sein, fand er. Und schon wieder ließ sich Juan dazu hinreißen, über Julian nachzudenken. Eigentlich wollte er es nicht, denn je mehr er sich an ihn erinnerte, desto mehr machte er sich Sorgen um ihn. Wie kam er alleine klar? Julian, der, dem Juan alle seine Geheimnisse anvertraute und der bei Juan dasselbe tat. Juan fuhr sich mit seinen Händen durchs Gesicht bis durch seine weichen, braunen Haare und über seine leicht spitzen Ohren. Die Erinnerungen an ihre geheimen Geständnisse setzten sich in seinem Kopf fest und damit auch die Erinnerung an ihn.

Eine verzweifelte Mischung aus einem Schrei und einem Grummeln entwich ihm. Er durfte nicht in Erinnerungen versinken, sonst hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle.

Juan stand von der Bank auf und schlenderte den Parkweg entlang. Einerseits wollte er auf andere Gedanken kommen, andererseits wollte er nicht schon wieder von irgendjemandem niedergemacht werden, dessen Hund mit ihm spielen wollte. Sein Vater würde sagen, dass Hunde nicht mit einem spielen, sondern einen immer herausfordern wollten. Deswegen musste man ihnen direkt zeigen, wer hier das Sagen hatte. Er verstand die Ansichten seines Vaters, geschweige denn seinen Vater, noch nie. Er schüttelte die Gedanken an ihn wörtlich ab bis ihm schwindelig war. Juan wollte weder über seinen Vater, noch über Julian nachdenken, beides machte ihn auf unterschiedliche Weise traurig.

Eine Mutter, die ihre Tochter an der Hand hielt, lief auf ihn zu. Sie musterte ihn und als sie schon mehrere Meter hinter ihm war hörte er die Mutter noch sagen: „Annika, hast du den jungen Mann gesehen? Versprich mir, dass du so nicht enden wirst, wie er. Du kriegst, wenn du erwachsen bist, so einen guten Job wie Papa. Okay?" Sie wusste offensichtlich nicht, wie gut Juan hören konnte.

Eigentlich sollten ihm die Meinungen der Leute, die ihn für einen Penner hielten, egal sein. Er wusste ja, dass er keiner war. So oft ihm sein Vater auch einbläuen wollte, dass kein Mensch Ahnung von irgendetwas hatte, so traf es Juan doch. Zuhause wurde er nicht richtig akzeptiert und jetzt, wo er weg war, wurde er es auch nicht. Er schaute an sich herunter: ein etwas zerrissenes weißes Hemd, eine abgenutzte Jeans, nackte Füße. Sah er wirklich so schlimm aus? Er hatte ja keine Ahnung, wie man sich ordnungsgemäß anzog. Etwa so kurz und eng wie die Halterin von Tommy? Oder lieber ein kariertes Hemd und einen buschigen Bart, wie der Mann, der seine „selbstgemachten, veganen Bio-Smoothies" am Flussufer anpries? Juan hatte keine Idee, was das war aber er ging zu dem Stand hinüber, den er schon vor zwanzig Metern riechen konnte. Außerdem hatte er Durst.

„Entschuldigung, was ist das genau?" fragte er.

„Das sind selbstgemachte, vegane Bio-Smoothies. Übrigens auch Gluten frei." Der Mann mit dem buschigen Bart machte eine einladende Armbewegung mit seinem komplett tätowierten Arm. „Möchtest du einen? Quinoa oder Avocado?" Er schenkte Juan ein nettes Lächeln.

Der Mann schien echt nett zu sein, er verurteilte Juan nicht. „Ich habe zwar keine Ahnung was das heißt, aber gerne." antwortete Juan. Er nahm sich ein Glas mit einem Inhalt in einer undefinierbaren Farbe und trank es in einem Zug aus. „Schmeckt ja richtig gut!" stellte er erstaunt fest und leckte sich den Smoothie mit seiner rauen Zunge von der Lippe. „Ich nimm dann noch einen!" Juan trank noch einen und endlich war sein Durst gestillt.

„Das freut mich. Macht dann zehn Turo, bitte." Der Verkäufer öffnete eine abschließbare Metalltruhe auf der Theke und schaute Juan abwartend an.

Juan sah ihn fragend an. „Wie bitte?" fragte er verwundert. Juan verstand nicht was der Mann von ihm wollte.

„Zehn Turo. Für die beiden Smoothies." Er lächelte noch immer nett und fügte hinzu: „Übrigens, total nice so ohne Schuhe rumzulaufen. Muss ich auch mal probieren, aber auf deinem Hipster-Level bin ich noch nicht." Er lachte herzhaft und Juan lachte abgehakt mit ihm. Er verstand jedes zweite Wort nicht, was der Mann sagte, geschwiege denn den Witz. „Also, zehn Turo." wiederholte der Mann. Juan lächelte ihn unsicher an.

„Ich verstehe nicht was du meinst..." antwortete Juan, kratzte sich am Hinterkopf und schaute kurz verlegen auf den Boden. Als er wieder hochschaute lächelte der Mann nicht mehr. Sein Mund war in seinem Bart verschwunden.

„Hast du kein Geld? Oder sprichst du meine Sprache nicht?" der Mann hörte sich zwar geduldig an, aber schloss plötzlich die Metalltruhe mit einem lauten Knall. Juan zuckte bei dem Geräusch zusammen. Mann, war das laut. Oder war es nur für ihn so laut?

„Du hast kein Geld, oder?" Der Smoothie-Verkäufer stützte sich mit seinen Armen an der Theke ab und sah Juan eher mitleidig an. Der verstand die ganze Situation immer noch nicht. Was wollte der Mann von ihm? War so ein großer Bart nicht umständlich? Welche Farbe hatte der Smoothie? Und was zum nackten Fuß sollte er jetzt tun?

WolfsschreiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt