VI

369 35 1
                                    


Ich schreckte auf. Als ein Knacksen ertönte, drehte mich suchend um meine eigene Achse. Ich konnte nicht genau zuordnen, woher das Geräusch kam. Seltsam... Ich war doch noch in unserem Reich. War es vielleicht ein Eindringling? Kaum war dieser Gedanke gekommen, war mein Kampfgeist geweckt, der mir schon sehr früh beigebracht worden war , und ich war bereit meine Heimat und mein zukünftiges Königreich zu verteidigen. Misstrauisch schaute ich mich wieder um und versuchte irgendwelche Bewegungen in den umliegenden Büschen warzunehmen. Doch derjenige, der vorhin so laut war, versuchte wohl nun möglichst leise zu sein.

Es dauerte eine Weile, bis sich wieder etwas tat. Die gane Zeit war ich auf dieser Lichtung gestanden und hatte auf so etwas gewartet. Ein erneutes Knacken gefolgt von einem schmerzerfüllten Keuchen ertönte hinter einem großen Busch, der nur einige, wenige Meter von meinem aktuellen Standpunkt entfernt war.

Vorsichtig schlich ich in gebückter Kampfhaltung um den Busch herum, bereit zu siegen oder bis zum Tod zu kämpfen. Doch als ich dorthin hervorsprang, stockte mir der Atem, als ich sah, was oder besser wer dort lag.

Zusammengerollt und schlaff lag dort ein junger Mann auf dem moosbewachsenen Boden. Ich bückte mich beunruhigt zu ihm hinunter. Aller Kampfgeist war aus mir gewichen und ich empfand nur Mitleid. Dunkles Blut trat zügig aus einer tiefen Wunde aus seiner Stirn und sein Bein stand unnatürlich vom Körper ab. Als ich ihn leicht ansubste, rührte er sich nicht. Mühelos drehte ich ihn um und versuchte dabei, weder seinen Fuß, noch deinen Kopf zu berühren.

Er hatte weiche Gesichtszüge und wuschelige, etwas längere, blonde Haare. Er hatte eine weite, lange Robe an, die grob gestrickt war und an manchen Stellen von vertrocknetem Blut verschmutzt war. Anhand seiner ungewöhnlichen Körpergröße und seiner Haarfarbe, erkannte ich, dass er unmöglich aus dem Herbst kommen konnte. Als ich seinen Körper noch einmal genauer musterte, fiel mir auf, dass er aus mehreren kleinen Wunden blutete. Einige von ihnen schienen älter und hatten schon einen Wundschorf, manche waren noch ganz frisch. Seine Arme und Beine waren von blauen Flecken übersäht und im allgemeinen sah er wenig gesund aus. Auch Essen schien er in letzte Zeit wohl nicht zu viel gehabt zu haben. Als ich die linke Seite seines Oberkörpers mit meiner Hand vorsichtig nachfuhr, spürte ich deutlich seine Rippen unter seiner dünnen Haut.

Ich überlegte. Sollte ich ihn das Schloss meiner Eltern mitnehmen? An sich wäre es kein Problem ihn dorthin zu bringen, doch ich war mir nicht sicher, ob meine Eltern das gutheißen würden. Ihn in sein Königreich oder Stamm oder wo auch immer er herkam zurückzubringen war definitiv keine Option. Ich würde wahrscheinlich niemals seine Familie oder sein Haus finden. Außerdem war es ein schwerwiegendes Verbrechen, in ein fremdes Königreich einzudringen. Dass er es selbst getan hatte, war mir im Moment völlig egal. Schließlich war er verletzt und würde sicher, so wie er aussah, in kurzer Zeit sterben, wenn ich ich ihm nicht wieder aufpäppelte. Außerdem war ich auch nicht wirklich ein Vorzeigekind, da ich für jedes Treffen mit Manu in winterliches Gebiet eindrang.

Ich musterte ihn nochmal. Ich fasste einen Entschluss: Ich würde ihn mitnehmen und das ganze einfach hinter dem Rücken meiner Eltern machen. Ein bisschen unwohl fühlte ich mich dabei schon, denn ich war nicht der Typ für so etwas. Generell hatte ich einen stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und der Wahrheit. Aber was soll's?

Einmal ist immer das erste Mal.

Ich hob ihn hoch und hoffte inständig, dass er bis zum Schloss nicht aufwachen würde. Ich blickte mich kurz um, um mich zu orientieren. Als ich mich wieder daran errinnerte, woher ich kam, ging ich schnellstmöglich zurück. Mehrmals fiel ich fast über herausstehende Baumwurzeln, die in unserem Wald sehr häufig vertreten sind. Allmählich beschlich mich das Gefühl, dass er so auch hingefallen war. Es würde auf jeden Fall einiges erklären.

Am Schloss angekommen, legte ich ihn vorsichtig in das weich, leich feuchte Graß und beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen, um mein Fenster zu öffnen. Ich war in diesem Moment so froh, dass mein Zimmer nur im ersten Stock lag und direkt über dem kleinen Anbau der Angestellten und es somit für mich eigendlich kein Problem war, ihn hineinzuschaffen.

Als ich zu ihm zurückkehrte, hatte er sich keinen Zentimeter bewegt und heilfroh darüber benutzte ich das Fensterbrett des Hauses der Bediensteten, um mich selbst und seinen Körper auf das Dach zu befördern. So war es ein leichtes, uns durch mein Zimmerfenster zu hieven. Ich kam hart auf meinem Zimmerboden auf und schaffte es im letzten Moment, ihn aufzufangen, bevohr er ebenfalls hart landete. Ich schaffte ihn in mein Bett und ignorierte mal die Tatsache, dass komplatt von oben bis unten beschmutzt und vollgeblutet war. Ich deckte ihn zu und beschloss mich schnell waschen zu gehen, bevor ich mich zu ihm legte und wieder komplett schmutzig werden würde.

Zum Glück hatte ich ein gigantisches Bett, in dem leicht zwei Personen Platz finden konnten, ohne zu viel Körperkontakt haben zu müssen.

Als ich die Augen schloss und langsam ins Land der Träumewanderte, hatte ich das Gefühl, das Richtige getan zu haben.


[805 Wörter]


Der Anfang (Grenzen I) [Freedomsquad]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt