XV

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Zombey

Ich hatte gerade noch Zeit meine Konturen verschwimmen zu lassen und verharrte halb in dem großen Busch, halb draußen und hoffte, dass sie mich nicht sahen. Doch sie kamen noch näher. Inzwischen musste sie mich gesehen haben, doch ich steckte alle meine Kräfte in meine Unsichtbarkeit und als ich leicht nach unten sah, war ich beinahe ganz verschwunden. Dennoch machte die eine Wache die anderen beiden auf etwas aufmerksam. Meine Tasche, die noch einen halben Meter von meinen Füßen entfernt war. Ich fluchte innerlich. Was sollte ich jetzt machen? So nahe an die Grenze wagte sich normalerweise niemand und ich tat das normalerweise auch nur, wenn ich mich mit Manuel traf. Oh nein, was, wenn sie mich schnappten, vernahmen und am Ende einsperrten oder gar hinrichten ließen? Ich konnte mich nicht wehren, meine Gliedmaßen fühlten sich jetzt schon schwer genug an und ich hielt meinen Zustand erst wenige Sekunden.

Sie traten an meine Tasche und schauten hinein. Als sie sich umblickten und niemanden entdeckten, schien ihre Anspannung etwas zu verfliegen. "Schaut, ob ihr jemanden findet", befahl einer von ihnen. Die anderen beiden gingen in zwei unterschiedliche Richtungen. Der dritte kam genau auf mich zu. Er hatte die Schlehen in der Tasche, die ich bereits hineingelegt hatte, an dem Busch entdeckt, in dem ich halb steckte. Er streckte seine Hand aus. Panik kam in mir auf. Er würde mich gleich berühren, mich entdecken, festhalten. Irgendwann würde ich wieder sichtbar werden und die konnten mich mitnehmen. Im schlimmsten Fall erkannten sie mich als Herbstprinzen und erklärten uns den Krieg. Handelspartner, ja, aber keine Freunde und bei Grenzüberschreitung stand bei ihnen wahrscheinlich Todesstrafe auf dem Plan. Ich würde meine Familie nicht wiedersehen, Manu nicht.

Gleich war es so weit. Ich schloss die Augen, hielt die Luft an, schloss mit allem ab und entschuldigte mich in Gedanken bei allen, denen ich damit schaden würde.

Doch seine Hand glitt einfach durch mich hindurch. Ich war nicht mehr materiell? Meine Überraschung hielt noch zwei Sekunden, dann hatte ich einen Plan. 

Schneller als ich mich je bewegt hatte war ich bei meiner Tasche. Ich glitt einfach durch die Äste. Als ich die Tasche berührte, war ich wieder materiell. zumindest meine Hand, mein Fuß glitt durch eine Wurzel.

Ich berührte den Boden nicht, es fühlte sich an, als ob ich eine Wolke unter mir hätte. Ohne meinen Körper konnte ich mich wie der Wind durch die Bäume bewegen. Noch nie hatte ich mich so frei gefühlt, noch nie war ich so schnell.

Ich kam aus dem Waldrand. Langsam spürte ich, wie meine Füße wieder den Boden berührten und ich stand. Die Abendsonne strahlte mir ins Gesicht. nur langsam kam ich jetzt voran. Meine Kräfte waren bis auf die letzte Reserve aufgebraucht und meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Schlamm.

Fast ohnmächtig vor Erschöpfung schleppte ich mich bis in mein Zimmer. Ich hatte Glück, dass mir niemand begegnete. Juliane war nicht mehr da. Ich zog mich nicht einmal aus, ich sank einfach neben dem Jungen ins Bett und war fast sofort eingeschlafen.

Am nächsten Morgen weckte ein zögerliches, aber präsentes Klopfen an meiner Türe mich aus meinem tiefen, erholsamen Schlaf. Kaum war ich einigermaßen wach, hörte ich meinen Magen knurren. Ich war unfassbar hungrig nach der kräftezehrenden Reise gestern und der Aufregung am Abend.

Ich warf einen Blick auf den schlafenden jungen Mann neben mir. Er war ungewöhnlich heiß, hatte er Fieber?

Als das Klopfen an der Tür nicht aufhörte, machte ich mich in der dreckigen und verschwitzen Kleidung auf, um sie zu öffnen. Ich war noch zu müde, um mich zu wundern, wer in der Früh etwas von mir wollte. Juliane stand im Flur und hielt eine Schüssel mit Wasser in der Hand. Ich ließ sie hinein. Wir begrüßten uns höflich und ich holte mir etwas zu essen aus der Speisekammer.

Es war schon lange her, dass ich mit meinen Eltern gefrühstückt hatte. Normalerweise waren sie zu beschäftigt. Doch auch, wenn wir uns wenig sahen, konnte ich sagen, das sie wirklich in Ordnung waren. Anders als Manus Eltern waren meine für mich da, wenn ich sie brauchte. Ich konnte einfach zu ihnen kommen. Dennoch löste ich meine Probleme lieber alleine.

Als ich mit Brot und einem Stück Wurst wieder in mein Zimmer kam, war Juliane gerade dabei den Stoff an seiner Wunde auszuwechseln und sie neu auszuwaschen. Ich bot ihr ein Stück Wurst an und sie machte große Augen. Fleisch oder tierische Produkte waren im Herbst normalerweise nur den ganz Reichen vorbehalten, weil sie so rar waren. Dankbar nahm sie sie an und biss beherzt hinein.

"Er ist ganz fiebrig. Das hatte ich mir gedacht. Hast du alles gefunden?" Ich nickte nur kauend. Ich reichte ihr die Tasche, die ich gestern neben meinem Bett hab fallen lassen. Sie zog ein Kraut hervor, das ich als Wiesensauerampfer wiedererkannte. Sie zupfte einige Blätter ab und legte sie neben die Schüssel. Dazu den Löwenzahn, die Schlehen und die Hagebutten und nahm alles in die Hand.

"Ich gehe in die Küche einen Tee kochen.", gab sie mir Bescheid. "Kann ich etwas machen"? Das Essen war inzwischen schon weg. "Ihr könnt die Kamille und den Frauenmantel kauen und die Paste ganz vorsichtig auf seine Wunde schmieren. Den Beinwell benutzen wir dann für seinen Bruch" Ich nickte und tat wie mir geheißen. "Bitte versucht nichts davon zu schlucken, dann hält es länger" Wieder nickte ich und lächelte ihr zu. Sie lächelte leicht zurück.

Dann verschwand sie. Ich beäugte die Blätter noch kurz misstrauisch, dann nahm ich den Frauenmantel in den Mund und kaute. Ich verzog mein Gesicht wegen des Geschmacks und als alles zu einem Brei geworden war, ließ ich meinen Mundinhalt in meine Hand fließen. Kurz schüttelte ich mich. Meine Güte war das eklig.

Dann näherte ich mich seiner Wunde. Sie eiterte zwar noch, aber es trat nur noch wenig Blut aus und mir schien es, als ob sie kürzer geworden wäre. Ganz vorsichtig trug ich die Paste auf die Wunde auf.

Die Kamillenblüten schmeckten noch widerlicher und ich musste gegen ein Würgen ankämpfen. Als ich auch diese Creme verteilt hatte, betrachtete ich ihn genauer. Wir hatten ihn nicht zugedeckt, damit wir auch seine kleinen Wunden betrachten können. Die Wunde an seiner Stirn war noch in eine Art Verband gewickelt. Er sah so hilflos aus und so klein, obwohl er sicher einen halben Kopf größer war als ich.

Ich näherte mich seinem Gesicht, strich ihm über die Wange. Er tat mir so leid, dass es in der Brust schmerzte, dabei wusste ich nicht, woher er kam und weshalb er bei uns war.

Ich sprang erschrocken einen Schritt zurück, als seine Augenlider zuckten und ich in seine hellgrünen Augen, die mit purer Panik gefüllt waren, schauen konnte. 

[1118 Wörter]

Der Anfang (Grenzen I) [Freedomsquad]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt