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Sie saß am Esstisch, während sie die Uhr an der Wand gegenüber mit ihrem Blick durchbohrte. Wie auf heißen Kohlen saß sie da, faltete das kleine Bild in ihren Händen immer wieder neu, ohne es dabei auch nur einmal direkt anzusehen. Sie konnte es kaum erwarten, bis Tom endlich nach Hause kam und wollte doch am liebsten einfach wegrennen. Mit Worten konnte sie noch nie gut umgehen und jetzt hatte sie ihm etwas so Wichtiges zu sagen.

Er war immer derjenige, der zuerst den Mund aufmachte, der die wichtigen Dinge ansprach. Er war eindeutig der Mutigere von ihnen. Er hatte den ersten Schritt gemacht, als es darum ging, das schüchterne Lächeln, dass sie ihm bei ihrer ersten Begegnung stumm schenkte, in eine richtige Konversation zu verwandeln.

"Hallo, lächelnde Schönheit", hatte er sie angesprochen. Bei ihm sah das so einfach aus. Nicht den kleinsten Funken von Nervosität ließ er durchscheinen, während sie schwitzige Hände bekam und das "Hey", das sie erwidern wollte, zu hilflosem Gestammel wurde. Später hatte er sie nach ihrer Nummer gefragt und weil sie unsicher darüber gewesen war, hatte er ihr seine auf eine Serviette geschrieben und gesagt, sie solle sich einfach melden, wenn ihr danach sei. Nachdem sie die Serviette an ihren Kühlschrank gepinnt und sie eine Woche lang unschlüssig mit ihrem Blick zu töten versucht hatte, weil sie sich von ihr provoziert fühlte, entschloss sie sich, ihm zu schreiben. Jedoch nicht ohne reichlich zu zögern tippte sie schließlich: "Hey, ich bin's, Rebecca. Wir kennen uns aus der Bar." Nachdem die Nachricht gesendet wurde, überkam sie ein kurzer Anflug von Panik, weil sie sich ihm nicht als Rebecca sondern als Becky vorgestellt hatte und sie fragte sich, ob er sich überhaupt noch an ihren Namen erinnerte. Aber zwei Minuten später begann ihr Handy zu vibrieren und sie erkannte seine Nummer, die sie vom langen Anstarren schon auswendig wusste, auf dem Display. Sie nahm ab und vergaß vor lauter Aufregung, etwas zu sagen. Da hatten sie zum ersten Mal telefoniert und er hatte sie angerufen. Zwei Wochen und fünf Dates später hatte er die Gelegenheit ergriffen, sie vor ihrer Wohnungstür zu küssen und weitere drei Monate danach hatte er zuerst "Ich liebe dich" gesagt. Sie hatte innegehalten, die brennende Hitze in ihren Wangen gespürt und die Worte flüsternd erwidert. Selbst als es um die Frage des Zusammenziehens ging, hatte sie geschwiegen, bis Tom laut ausgesprochen hatte, worüber sie sich sofort einig waren.

Aber jetzt stand sie an einem Punkt, an dem sie den Mund aufmachen musste. Er konnte immerhin keine Gedanken lesen, auch wenn es manchmal so schien, als wüsste er genau, was sie dachte. Und ein paar Monate warten, bis er von selbst darauf kommen würde, konnte sie auch nicht, weil es dann vielleicht schon zu spät wäre. Sie musste das mit ihm klären, denn Familienplanung war noch kein Thema gewesen und wahrscheinlich würde Tom in den nächsten fünf Jahren nicht auf den Gedanken kommen. Sie wohnten immerhin erst seit einem knappen halben Jahr zusammen und ihr Gefühl sagte ihr, dass es noch viel zu früh dafür war.

Sie sah wieder zu der großen Uhr an der Wand, die sie von ihrer Großmutter zum Einzug in ihre und Toms Wohnung geschenkt bekommen hatte. Sie zeigte zwanzig nach fünf. Das bedeutete, dass ihr Freund in spätestens zehn Minuten durch den Küchendurchgang spazieren, sie mit den Worten "Wie war dein Tag, Schatz?" begrüßen und ihr einen sanften Kuss auf die Lippen geben würde. So wie immer. Und eben nicht wie immer würde sie nicht von ihrem uninteressanten Tag auf der Arbeit erzählen. Denn da war diese Sache, die sie ihm beichten musste.

Ihr Blick wanderte zu ihren Händen, mit denen sie dem Ultraschallbild unaufhörlich neue Knicke zufügte. Sie hatte sich nicht lange genug damit auseinandergesetzt, wie sie es ihm beibringen konnte. Ihr war nicht eine vernünftige Weise eingefallen. Ihr Favorit von den bisherigen war die Variante, bei der sie ihm einen Zettel auf dem Küchentisch hinterließ, auf dem stand: "Ich bin schwanger. Ruf mich an, wenn wir trotzdem zusammenbleiben." Sie würde sich bei einer Freundin einquartieren und warten, bis ihr Handy klingelte oder bis es das eben nicht tat. Aber die Idee war kindisch und das wusste sie. Mit Sicherheit würde er sofort anrufen, um mit ihr darüber zu reden. Nur die Frage, ob er überhaupt Kinder wollte, wäre damit nicht geklärt und vor einem solchen Gespräch hatte sie Angst. Sie wusste selbst nicht, ob sie eine eigene Familie wollte oder nicht. Sowieso ließ sie ihn viel lieber über die großen Dinge entscheiden und wenn es ihr nicht recht war, widersprach sie nach einigem Herumdrucksen auf eine so verblümte Weise, dass nur Tom es verstehen konnte. Für alle anderen war sie ein verwirrendes, stilles Wesen, aus dem man nichts herausbekam, aber für Tom war sie ein offenes Buch. Selbst ihr panisches Geplapper, wenn sie nicht wusste, wie sie etwas ausdrücken sollte und die Worte einfach sinnlos heraussprudeln ließ, konnte er ohne weiteres entziffern, obwohl das nicht einfach sein konnte. Dafür liebte sie ihn so sehr. Das Problem im Moment war nur, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie er zu der Sache stand. Anders als er konnte sie ihn nicht so leicht durchschauen. Für den Fall des Zweifelns hatte sie eine Pro- und Contra-Liste angelegt, als sie heute Vormittag vom Arzt zurückkam, die ihr ein paar Kenntnisse über seine Haltung zu dem Thema einbringen sollte.

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