#9.2

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Don't judge true love.

In der ersten Nacht, die sie bei ihm verbracht hatte, konnte er nicht schlafen. Er fragte sich die ganze Zeit, warum er das tat und wollte gar nicht daran denken, wie das auf andere wirken musste. Ein Lehrer, der seine minderjährige Schülerin zum Arzt fuhr, dann bei sich duschen ließ und ihr zum Schluss noch die Couch für die Nacht herrichtete, anstatt die vorliegende Kindesmisshandlung zu melden... Während seines Studiums und auch während der recht kurzen Zeit seines bisherigen Lehrerdaseins wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass er sowas jemals machen würde. Die Tatsache, dass es dennoch so gekommen war, verunsicherte ihn. Auch, wenn ihm klar war, dass sein Verhalten in den Augen jedes anderen als falsch angesehen würde, war er irgendwie davon überzeugt, das Richtige zu tun. Seine Beweggründe waren aber selbst für ihn ein Rätsel. In ihrem letzten Schuljahr, vier Monate vor den Abschlussprüfungen wäre es eine große Umstellung gewesen, wenn sie in eine Wohngruppe gesteckt worden wäre. Er glaubte auch zu wissen, dass es ihr dort Angst gemacht hätte. Das hatte sie zwar nicht gesagt, aber für ihn stand das fest. Und er wollte nicht, dass seine Schüler vor irgendetwas so sehr Angst hatten, sodass sie am Ende ihr Abitur nicht bestanden, obwohl gerade Robin sich darum keine Sorgen machen musste. Sie war ein verdammt schlaues Mädchen. Nicht nur in seinem Fach, aber vor allem da. Nur das Emotionale war bei ihr auf der Strecke geblieben. Die Probleme mit ihren Klassenkameraden sprachen für sich. Sie hatte sich bisher nie dagegen gewehrt, was ihn in seinem Handeln weiter bestärkte. Er hatte jetzt die Erlaubnis, für jeden Ärger, den sie verursachten, und für jeden "Streich" den sie ihr spielten, Einträge zu geben. Als ihm dieser Gedanke kam, fiel ihm augenblicklich auf, dass darin zwei Fehler steckten. Ersten: Er brauchte niemandes Erlaubnis, um bei Beleidigungen, Hänseleien und dergleichen zu den entsprechenden Maßnahmen zu greifen. Und zweitens: Sie hatte kapituliert und ihm keine Erlaubnis gegeben. Gewissermaßen erpresste er sie, aber das war ihm egal, solange es ihr half. So ging es ihm auch, wenn er darüber nachdachte, warum er nicht das Jugendamt von ihrer häuslichen Situation in Kenntnis gesetzt hatte. Dem hingen seine Gedanken die restliche Nacht nach, aber er wurde sich dabei immer sicherer, dass seine Entscheidung richtig war, solange es niemand mitbekam.

Am nächsten Morgen stellte er zum Frühstück Cornflakes auf den Tisch, nichts Aufwändiges. Er weckte sie auch nur passiv, indem er das Radio im Wohnzimmer anstellte und wartete, bis sie die Augen von selbst öffnete. Es freute ihn, zu sehen, wie ausgeschlafen sie wirkte. Wenig später stiegen sie in sein Auto, um das prophezeite Gespräch mit ihrer Mutter zu führen und es freute ihn nicht mehr so sehr, wie schweigsam sie auf der Fahrt dorthin wurde. Deswegen vertrieb er ihnen die Zeit mit belangloser Plauderei über das nächste Thema im Mathematikunterricht, bis sie "Halt" sagte und auf ein heruntergekommenes Wohngebäude etwa aus den Siebzigern zeigte. Als die Tür von einer Frau Mitte dreißig im Bademantel und mit einer Zigarette in der Hand geöffnet wurde, dachte er zuerst, es wäre die falsche Wohnung, aber dann fragte die Frau an Robin gerichtet: "Hast du dir einen Beschützer besorgt?" und er wusste, dass es sich um ihre Mutter handeln musste. Kurz überkam ihn ein schlechtes Gewissen wegen der schroffen Art, die sie an den Tag legte. Bei so einem Menschen wollte er Robin eher weniger absetzen, aber sie hatten einen Deal. Also ließ er sie vor der Tür warten, um mit ihrer Erziehungsberechtigten allein zu sprechen. Sie wirkte nicht so, als wäre sie besonders scharf auf eine Unterhaltung mit dem Lehrer ihrer Tochter. Aber er machte ihr klar, dass sie ihr Verhalten ändern müsse, wenn sie nicht bald die Polizei wegen Kindesmisshandlung vor der Tür stehen haben wolle. Er erzählte ihr auch von der Abmachung, die er mit Robin getroffen hatte. Sie würde ihm erzählen, sobald hier etwas schief laufe und beim nächsten Mal könne er nicht mehr so nachsichtig sein. Als sie sich widersetzen wollte, unterbrach er sie und erhob ungewollt seine Stimme. Was sie in ihrer Freizeit mache, sei ihm herzlich egal, aber sie habe die Verantwortung für ihre Tochter zu tragen und sobald er Robins Gesundheit gefährdet sehe, scheue er keine Mühe, sie vor Gericht zu bringen. Kurz wurde die Frau still - wahrscheinlich fragten sich beide, wieso er plötzlich so aufbrauste -, dann nickte sie und damit war die Unterhaltung beendet. An der Tür setzte er sie noch über Robins Schulter in Kenntnis und erklärte, dass sie sich in den nächsten Tagen schonen solle, woraufhin ihre Mutter wieder nach drinnen verschwand. Kurz blieb er mit Robin noch im Treppenhaus stehen. Er machte ihr den Ernst der Lage erneut klar und wiederholte, was die Alternative war, wenn es mit ihrer Mutter nicht funktionierte. Zum Schluss schrieb er ihr seine Handynummer auf, weil er sich doch nicht ganz so wohl bei dem Gedanken fühlte, sie hierzulassen. Dass er damit erneut eine Grenze in ihrer Lehrer-Schüler-Beziehung überschritt, wusste er nur zu gut. Trotzdem gab ihm das ein sichereres Gefühl und nachdem sie ihm versprechen musste, in jedem Fall anzurufen, wenn es ein Problem gab, konnte er auch endlich gehen.

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