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Sie kommt nach Hause, ist aufgeregter, als sie es sonst ist. Eine Woche vor den Prüfungen scheint das normal und doch fühlt es sich merkwürdig an. Sie kennt lediglich das Gefühl von negativer Anspannung, von Verkrampfung. Sie hat jahrelang verkrampft gelebt, hat sich in ihrem Zimmer versteckt, viel zu oft geweint und viel zu selten gelacht. Manche nennen es eine schwierige Phase in ihrem jungen Leben, die Psychologen mittelgradig depressive Episode. Aber diese Zeit ist vorbei und die Aufregung nicht panisch, sondern einfach aufgedreht und hibbelig. Ihr rechtes Bein kann nicht stillhalten. Es wippt nervös auf und ab, sodass selbst ihre Hände mitzittern. Das kennt sie aus der Zeit, in der sie sich noch selbstverletzt hat. Aber daran denkt sie schon seit einigen Monaten nicht mehr. Es geht ihr deutlich besser. Und die Aufregung, die sie den ganzen Tag zappeln lässt, ist so ungewohnt unnegativ, dass sie sich fast schon wie Vorfreude anfühlt.

Jetzt, während sie an ihrem Schreibtisch grübelnd über den Mathematikaufgaben sitzt, wird sie ruhiger. Vor allem Analysis macht ihr Spaß und dabei kann sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Außer Mathe laufen auch einige andere Dinge in ihrem Leben ziemlich gut. Dass sie sich nicht mehr in ihrem Zimmer verkriecht, um dort in Tränen auszubrechen wegen nichts und wieder nichts, ausgeschlossen. Sie lässt sich von nichts mehr wirklich runterziehen, ist viel draußen mit Freunden und dunkle Gedanken bleiben eigentlich ganz fern. Das Einzige, das zur Zeit ein wenig an ihren Nerven zehrt, sind die Streitereien mit ihrer Schwester. Dennoch würde sie ihr jederzeit eine Niere spenden, wenn es denn nötig sein sollte. Das ruft sie sich immer ins Gedächtnis, wenn es brenzlig wird und ihre Schwester darauf schwört, sie nicht ausstehen zu können. Das mit der Zuneigung ist in ihrer Familie so eine Sache. Niemand kann das wirklich zeigen. Ihr Vater nimmt sie nur selten in den Arm, ihre Mutter sitzt oft teilnahmslos auf der Couch und daddelt auf ihrem Smartphone herum, ihre Schwester geht bei den meisten Zuneigungsausdrücken an die Decke und blockt ab. Eine komische Familie und es ist definitiv nicht einfach für sie, aber meistens kommt sie damit klar. Sie hat gelernt, die Umgangsformen in ihrer Familie zu akzeptieren und manchmal - wenn auch nicht oft, aber immerhin - machen sie ihr bewusst, dass sie doch ein Teil der Gemeinschaft ist, den sie zu schätzen wissen und auch lieben.

Kurz schaut sie von ihrem Block auf und ist irritiert. Ihr Bein beginnt wieder zu zappeln. Sie weiß genau, warum. Seit neuestem hat sie jemanden, der ihr jeden Tag sagt, dass er sie lieb hat. Und vor ein paar Tagen hätte er sogar fast die "L-Bombe" platzen lassen. Sie mag ihn sehr, keine Frage, und sie genießt die Wärme, die sie sonst nicht so oft bekommt, trotzdem hat sie ihn darum gebeten, es nicht auszusprechen. Sie sind noch nicht einmal seit zwei Wochen zusammen und in Beziehungen ist sie noch nie gut gewesen. Sie möchte sich einfach sicher sein, obwohl sie das in ihren bisherigen Beziehungen nie gewesen ist. Woher soll sie wissen, wie sich diese Sicherheit äußert und wie es sich anfühlt, jemanden wirklich zu lieben? Sie hat Angst, dass sie es nicht erwidern kann und ihn dadurch verletzt. Es ist neu für sie, sich auf jemanden einzulassen, zu vertrauen und ganz offen zu sein. In den letzten drei Jahren hat sie oft abgeblockt, wenn es ums Ehrlichsein ging. Die Menschen, denen sie wirklich vertraut hat, haben sie nacheinander verletzt und dann verlassen. Und auch wenn sie weiß, dass sie gerade auf dem besten Weg zu einem kompletten Neuanfang ist, vertraut sie noch nicht ganz, weicht manchmal ein kleines Stück zurück und ist vielleicht ein bisschen zu vorsichtig. Das würde sie ihm gerne sagen, aber direkt zu sein liegt ihr bei ernsten Themen eben nicht. Das hat es noch nie und sie hat Angst, dass es noch eine ganze Weile dauert, bis sie dieses Verhalten ganz ablegen kann. Aber sie ist davon überzeugt, dass sie ausnahmsweise keinen Fehler gemacht hat, was ihn betrifft. Jeden Tag kann sie ein bisschen mehr atmen und die Zweifel haben bereits abgenommen. Er ist Teil ihres Neuanfangs.

Jetzt seufzt sie, klappt das Mathebuch zu und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Er hält sie öfter mal vom Lernen ab - heute wieder, aber sie wollte es nicht anders -, selbst wenn er nicht da ist, und das bringt sie zum Lächeln. Sie würde ihm so gerne einmal sagen, wie leid es ihr tut, dass sie nur so selten den Mund aufbekommt, wenn es um wichtige Dinge geht. Sie hat das erdrückende Gefühl, ihn mit ihrem Schweigen zu foltern. In Momenten, in denen sie gerne etwas sagen würde, holt sie alle paar Sekunden tief Luft, schafft es dann aber doch nicht oder sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Shirt. Dabei kann sie ihm nicht einmal in die Augen sehen. Sie weiß, wie schwierig sie manchmal sein kann, obwohl sie bereits den Großteil ihrer negativen Eigenheiten abgelegt, die finsteren Gedanken verbannt und ein bisschen vom echten Leben geschnuppert hat. Leben macht Spaß, hat sie festgestellt. Und mit ihm ist es noch ein Stückchen besser. Sie hat ihn näher an sich herangelassen, als sie es nach all ihren schlechten Erfahrungen für möglich gehalten hätte. Psychisch und physisch. Ja, sie hat nach dem ersten Kuss eine Woche lang mit sich gehadert. Sie kennt eben nur ihre alten Verhaltensmuster und will ihn nicht verletzen, wie sie es sonst immer getan hat. Und sie hat immer noch ein bisschen Angst um ihren Verstand, hat es aber trotzdem zugelassen, ist diese Bindung eingegangen und hofft so sehr, dass sie nichts falsch macht. Sie fühlt sich noch nicht in der Lage, all diese Gefühle zu kontrollieren und einschätzen kann sie sich erst recht nicht. Sie hat gelernt, sich selbst am wenigsten zu vertrauen. Aber er tut es scheinbar und das macht es wiederum nicht leichter. Sie gibt sich alle Mühe, aber sie sieht, wie er mit sich zu kämpfen hat, weil sie ihm nicht ganz so sehr vertraut. Dabei stellt er so viele Dinge mit ihr an, die sie sich bei weitem noch nicht zugetraut hätte. Vor allem körperlich hat sie von sich das komplette Gegenteil von dem erwartet, wozu sie jetzt zumindest halbwegs in der Lage zu sein scheint. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Vergangenheit hätte es viel problematischer werden sollen. Sie hat ihm erzählt, wie es ihr sonst immer ergangen ist und beide hätten wahrscheinlich etwas ganz anderes von ihr erwartet. Sie kann an dieser Stelle nur für sich sprechen, aber sie ist wirklich erstaunt, wie weit sie mit ihm bisher gegangen ist. Natürlich nicht ohne Komplikationen, aber sie weiß es so sehr zu schätzen, wie sehr er auf ihre Vergangenheit Rücksicht nimmt. Sie ist es nicht gewohnt, in den Arm genommen zu werden, wenn sie sich im Bett unter der Decke versteckt und zu weinen anfängt. Das kennt sie wirklich nicht. Er weiß ein bisschen von ihrer Problematik bei dem Thema, wahrscheinlich nicht halb so viel, wie er gern wüsste, aber schon deutlich mehr, als sie bisher tatsächlich erzählt hat. Aber er sagt, er wolle ihr nicht wehtun und am liebsten würde sie all ihre Komplexe einfach beiseiteschieben, ihre düstere Vorgeschichte in diesem Zusammenhang genauso, einfach um es für ihn einfacher zu machen. Es schmerzt jedesmal mehr, wenn sie nicht einen Schritt weitergehen können und er so traurig aussieht, weil er sie nicht überall berühren kann, ohne dass sie weint. Sie ist ihm unendlich dankbar, wie anständig er sie behandelt. Auch wenn er in diesen Situationen offensichtlich Angst hat, falsch mit ihr umzugehen. Sie findet das unglaublich lieb und gleichzeitig ein bisschen erschreckend. Wie bei allem Unbekannten bleibt sie auch hier erst einmal skeptisch und kann den Tatsachen nicht ganz Glauben schenken, so gern sie das auch würde. Für ihre Verhältnisse riskiert sie eine ganze Menge, indem sie sich ihm schon so weit geöffnet hat und sie hofft inständig, dass er das weiß.

Für einen Moment schließt sie die Augen. Der Pullover, den sie trägt, hält seinen Duft gefangen und sofort zeigt dieses eigentümliche Kribbeln in der Magengegend, das sie immer spürt, wenn er sie küsst, seine Präsenz. Dieses Gefühl ist für sie der eindeutigste Beweis, dass sie hiermit keinen Fehler gemacht hat. Zu gern würde sie die ganze Sache beschleunigen, zu ihm aufholen und ihm die Bestätigung für das geben, was er schon so oft beteuert hat. Er ist glücklich mit ihr und sie will das auch sein. Ohne die Zweifel, die ihr sagen, dass sie für das richtige Leben noch nicht bereit ist, und ohne die Panikmomente, die ihn glauben lassen könnten, dass er für ihre Tränen verantworlich ist. Und am allerliebsten will sie ihm sagen, was es für sie bedeutet, ihn zu haben. Aber sie muss erst verstehen, was sie jetzt hat, muss sich daran gewöhnen, nicht mehr allein zu sein und auch zu vertrauen muss sie noch richtig lernen. Die Niere ist für ihre Schwester reserviert und die zweite braucht sie selbst, aber sie sagt ihm immer wieder, dass sie ihn lieb hat. Für ihre Vorgeschichte ein großer Schritt. Die drei Worte sind noch zu viel, aber so lange will sie ihn küssen und es damit sagen.

P.S. Falls er diesen Text hier irgendwann mal liest, dann sollte er es ihr vielleicht sagen. Sie wäre ihm nicht böse, auch wenn er ihr zuerst noch versprochen hat, genau das nicht zu tun. Aber eigentlich will sie sich ja nicht mehr vor ihm verstecken und wenn er durch die paar Wörter zu einem besseren Durchblick bei ihr gelangt, wäre das vielleicht gar nicht so verkehrt.

~1589

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