#9.1

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Don't judge true love.

Ich weiß, manche verurteilen uns dafür. Wahrscheinlich vor allem ihn, weil es ab einem gewissen Zeitpunkt auf Außenstehende so wirken könnte, als hätte er eine damals noch Minderjährige ausgenutzt. Oder doch eher mich, weil es so aussehen könnte, als hätte ich es für die Noten getan. Aber diese Argumente kann ich leicht widerlegen. Ich bin davor schon eine Einserschülerin gewesen, zumindest in seinem Fach. Und ausgenutzt hat er mich auch nicht. Ganz einfach deshalb, weil er das alles zu Beginn nur gemacht hat, um mir zu helfen und als es dann angefangen hat, wollte er auf Abstand gehen, sobald ich ihm einen Schritt zu nahe gekommen bin. Sowieso zählt das jetzt nicht mehr. Heute gibt es keine Noten, die ich beeinflussen könnte. Und ich habe mich an keinem einzigen Tag von ihm ausgenutzt gefühlt. Er ist der Mensch, der in jeder erdenklichen Situation für mich dagewesen ist, der mich aufgebaut hat, wenn ich am Boden gewesen bin und der mir gezeigt hat, was das Leben alles zu bieten hat. Ohne ihn stünde ich nicht hier.

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Zum ersten Mal habe ich ihn gesehen, da... Naja, ich bin in ihn hineingefallen. Eigentlich bin ich gestoßen worden. In meiner Klasse habe ich es von Beginn an nicht leicht gehabt. Solche Dinge sind öfter passiert, immer wieder mal und ich habe mich dagegen nicht gewehrt. So auch nicht, als ich auf der Treppe im Schulgebäude geschuckt worden und ziemlich unbeholfen gegen ihn geprallt bin. Er hat die verantwortlichen Jungs zurückgerufen, um von ihnen eine Entschuldigung einzufordern. Ich habe nur "Geht schon" gesagt und wollte verschwinden, aber er hat mich aufgehalten, hat die Missetäter gezwungen, mir die Hand zu geben und als die sich aus dem Staub gemacht haben, hat er mich gefragt, warum sie das getan haben. "War doch nur ein Versehen", habe ich darauf geantwortet und mich von ihm losgemacht. Zwei Tage später hat er in unserem Klassenzimmer gestanden und sich als den neuen Mathelehrer der Oberstufe vorgestellt. Von da an hat er ein Auge auf mich gehabt und meine kindischen Klassenkameraden zur Ordnung gerufen, wann immer sie es auf mich abgesehen haben. Er hat schnell gemerkt, dass es sich bei ihrem Verhalten mir gegenüber nicht um tägliche Versehen gehandelt hat. Mir ist es unangenehm gewesen, dass er sich binnen des ersten Monats zum unbeliebtesten Lehrer in unserer Klasse hochgearbeitet hat, weil er wirklich gar nichts ungestraft durchgehen lassen hat. Nicht die Beleidigungen, nicht die Kreide auf meinem Stuhl und auch nicht die hässlichen Portraits von mir an der Tafel. Mit den Einträgen hat er nur deshalb gespart, weil ich immer darauf bestanden habe, dass alles okay sei. Zumindest glaube ich das. Und so enttäuscht, wie er mich immer angesehen hat, wenn ich seine Bestrafungsmaßnahmen einfach abgetan habe, hat ihm das überhaupt nicht gefallen. Das hat mir wiederum irgendwie leid getan, trotzdem habe es für sein Problem gehalten, wenn er sich denn unbedingt um mich sorgen musste.

Die erste Klausur hat er uns in Einzelgesprächen zurückgegeben mit der Begründung, dass er wohl mit einigen Schülern wegen den Noten reden müsse. Aber bei mir ist er darauf nicht so sehr eingegangen. An meiner Arbeit hat er nichts auszusetzen gehabt. Fünfzehn Punkte. Er hat die Unterhaltung eher genutzt, um etwas anderes aus mir herauszubekommen. Er hat mich gefragt, warum ich mich im Unterricht nie melde, denn die Arbeit ist für ihn der Beweis gewesen, dass ich nichts Falsches sagen könne. Er wollte wissen, ob ich mich wegen meinen Mitschülern zurückhalte. Ich habe mit den Schultern gezuckt und er hat gelächelt. Ich könne mit ihm darüber reden, wenn ich das Bedürfnis haben sollte. Das ist sein letzter Satz gewesen. Ich habe freundlich "Danke" gesagt und bin ins Klassenzimmer zurückgegangen. Den Gedanken an ein Gespräch mit ihm über meine Probleme habe ich sofort wieder verdrängt. Auch, wenn er immer angespannter reagiert hat, wenn ich die Streiche meiner Mitschüler stumm über mich ergehen lassen und immer darauf bestanden habe, dass auch er nichts dagegen unternimmt. Wie gesagt: das ist sein Problem gewesen. Und ich wollte mich ihm auch weiterhin nicht anvertrauen.

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