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Meine Mutter umarmt mich ein letztes Mal, die Dame von der Technik drückt mir das Mikrofon in die Hand und ein ganz in schwarz gekleideter Typ zieht die schwere Tür auf, durch die ich ohne einen letzten Schulterblick schreite. Zwei weitere Männer verfolgen mich mit vollständiger Kameraausrüstung. Es ist viel komischer, als es im Fernsehen immer aussieht. Jede Person hinter der Bühne zeigt ein unangemessen hohes Interesse an mir, wobei die Interviewerin noch nicht einmal die schlimmste davon ist. Bevor sie mich für die TV-Aufzeichnung nach Name und Alter fragt, huscht eine Frau mit zehn verschiedenen Pinseln vorbei, pudert mein Gesicht, bis es nichts mehr zum Abpudern gibt, eine zweite zupft an meinen Klamotten herum, damit alles sitzt, wie es zu sitzen hat und eine dritte erklärt mir nebenher die Kleinigkeiten zu dem Handmikro, damit ich es weder zu nah an den Mund noch zu weit davon entfernt halte. Absichtliches Spucken ist verboten, das betont sie mehrmals ganz ausdrücklich. Vielleicht weil einer meiner Vorgänger genau das getan hat und daraufhin die gesamte Technik beseitigt werden musste? Wer weiß.

Das Interview an sich ist auch merkwürdig gewesen. Ich treffe kaum auf Menschen, die ein Dauergrinsen wie mit Tackerklammern befestigt im Gesicht kleben haben und mit einer so unerschütterlich fröhlichen Stimme vor sich hin plappern können. Das hat mich ehrlich gesagt zu der Grundstimmung gebracht, die ich jetzt innehabe. Irgendwie dumpf und eintönig setze ich einen Schritt vor den anderen und realisiere kaum, wie die Kameraleute sich noch einmal zu meiner Mutter umdrehen. Ich höre sie sagen: "Ich hab' dich lieb" und mit Sicherheit winkt sie mir dabei hinterher. Wie damals, an meinem ersten Tag in der Klinik, als wir uns ein letztes Mal durch die dicke, unkaputtbare Fensterscheibe verabschiedet haben. Es ist erstaunlich, wie lange das schon zurückliegt. Fast drei Jahre sind seither vergangen und ich habe mich sehr verändert, zumal ich gerade auf dem Weg bin, vor hunderten von Menschen auf einer Bühne zu stehen und zu singen (dass mein Auftritt auch noch im Fernsehen gezeigt wird, vergessen wir einfach). Dazu wäre ich damals definitiv nicht in der Lage gewesen, aber an meinem 'großen Tag' spüre ich nicht das geringste Zeichen von Aufregung. Ich bringe die letzten Meter hinter mich und muss dann, der Handbewegung des Typen mit dem Angelmikrofon zu Folge, nach links abbiegen. Ab da ist der Weg leicht zu finden. Immerhin werde ich bereits von zahlreichen Scheinwerfern geblendet. Der Rand der Bühne ist in zehn Metern Entfernung zu erkennen und vier große Stühle leuchten mir mit ihren Rückseiten ein eindringliches, rotes "I want you" entgegen. Ich schreite bis zu dem schwarzen Panzertapekreuz, das meine Markierung darstellt, wie mir zusammen mit den Mirkofonanweisungen eingebläut worden ist. Brav bleibe ich über dem Kreuz stehen und kann urplötzlich gar nichts mehr erkennen. Die Beleuchtung hier vorne ist viel heftiger, als es zuerst den Anschein gemacht hat. Mir wird wärmer und ich realisiere den Applaus der nicht sichtbaren Menge. Erst als die Lichter gedimmt werden, kann ich all die fremden Gesichter in den ersten Reihen erkennen. Gleichzeitig verstummen sie und tatsächlich macht mein Herz einen winzigen Satz, als die Drumstick-Schläge die Musik zu meinem Song im Viervierteltakt einleiten. Als der erste Ton des Klaviers einsetzt - ein tiefer C-moll-Akkord, der den Anfangstakt ganz für sich einnimmt und ein paar Sekunden lang schwer in der Luft hängt - schließe ich die Augen und fahre gänzlich runter. Es ist wie damals, als ich mich noch geschnitten habe: tief Luft holen und ansetzen. Ein krasser Vergleich, das finde sogar ich selbst, als mir dieser Gedanke ganz ohne Verwarnung kommt, aber die Konzentration ist da. Genau wie damals. Fokusiert auf mein Vorhaben greifen meine Finger das Mikrofon fester. Ich weiß genau, wann mein Einsatz kommt. Ich habe keine Chance, ihn zu verpassen, so gut kenne ich jede einzelne Note des Liedes. Die Strophen sowie das Vorspiel bestehen jeweils aus denselben vier Akkorden. Und das Stück ist in Moll geschrieben, deshalb mag es vielleicht etwas zu schwermütig oder gar deprimierend klingen, doch das ist Absicht.

Ich sage in Gedanken den G-moll-Akkord voraus und verharre bis nach dem ersten Schlag. Dann hebe ich das Mikrofon.

"A bit too shy, a bit too quiet", singe ich die ersten Zeilen der ersten Strophe so dunkel, wie es meine Stimme erlaubt. Als Vereinzelte in der Audienz zu klatschen beginnen, kneife ich die Augen fester zu und warte den nächsten Takt ab, um mit dem Text fortzufahren. Mit dem Zeigefinger klopfe ich ganz sachte den Rhythmus mit. Allmählich steigt ein klitzekleines bisschen Nervosität in mir auf. Ich denke an den kurzen Blick, den ich in dem abgedunkelten Saal auf meine Zuhörer erhascht habe. Die vielen Gesichter und die schwarzen Reihen dahinter. Es gibt sogar eine Tribüne ein paar Meter über und ein paar mehr vor mir. Entschlossen halte ich meine Augen weiterhin geschlossen, damit ich ja nicht noch einen Eindruck von der großen Menschenzahl bekommen kann. Dabei weiß ich genau, wie viele Sitzplätze der Saal samt oberer Loge umfasst. Eine Zahl, die ich ungern aussprechen möchte. 'Dreistellig' klingt nach so viel weniger, als es tatsächlich ist.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 20, 2019 ⏰

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