16.:"Der, der mich letzte Woche geschlagen hat"

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"Jetzt komm schon!", nörgle ich und zerre ihn hinter mir her. "Und du bist dir sicher, dass deine Eltern nicht da sind? Nur deine kleine Schwester?" Er hat verdammt Angst, meine Eltern kennen zu lernen, was mich echt amüsiert. Ich weiß, dass meine Eltern da sind, hatte ihn aber damit locken können, dass sie für gewöhnlich nie um diese Zeit Zuhause sind. Doch mein Dad hatte Urlaub und Mum konnte heute früher nach Hause. Auf diese Weise musste ich ihn nicht anlügen.
"Du weißt doch, dass ich nicht lügen kann. Wie gesagt! Die sind nie um 15 Uhr schon zuhause! Die Schicht meiner Mum endet immer um 18 Uhr und mein Dad kommt auch nie eher Heim.", mache ich ihm Mut. "Okay", gibt Nick kleinlaut nach.

Ich öffne die Türe, zerre ihn rein und schließe sie hinter ihm. Ich gebe ihm einen kurzen Kuss. Er sieht mich perplex an und ich sage nur "nimm es als Entschuldigung und sei mir bitte nicht böse", während ich mich an seine Hand klammere. "Was meinst du?", will Nick, zu Recht völlig verdutzt, von mir wissen. "Mum? Dad? Ich bin zuhause!", rufe ich laut Richtung Küche. Nick sieht mich panisch an und macht einen Schritt rückwärts Richtung Tür. "Wie kannst du nur?!", zischt er mich an und versucht sich von mir los zu machen, doch dass lass ich nicht zu. Ich lege meine zweite Hand noch beruhigend auf seine Wange. "Beruhig dich. Irgendwann musst du sie sowieso kennen lernen. Sie sind nett, glaub mir! Und außerdem bist du nicht der erste Kerl den ich Zuhause anschleppe.", Necke ich ihn etwas, was er grummelnd zur Kenntnis nimmt, sich jedoch langsam entspannt. Er antwortet mir nicht. Ich sehe das als Zustimmung an und schleppe ihn hinter mir her in die große Wohnküche unseres kleinen Hauses. "Hallo Maus.", sagt meine Mum und will mich umarmen, bleibt jedoch etwas perplex stehen, als sie Nick hinter mir sieht, der freundlich auf sie zugeht und ihr die Hand entgegenstreckt, wofür er meine jedoch loslassen muss. "Ich bin Nick O'Neall, ein... Freund Ihrer Tochter", stellt er sich höflich vor. Meine Mutter und mein Vater, der mittlerweile neben sie getreten ist, merken sein zögern vor dem Wort 'Freund' nicht. Ich jedoch schon. Die Beiden geben ihm glücklich die Hand und stellen sich vor. "Und du kannst uns ruhig duzen", meint mein Vater kumpelhaft zu ihm. "Danke", sagt Nick selbstbewusst. So kannte ich ihn noch gar nicht. Ich will seine Hand ergreifen, doch er schaut mich recht böse an, weshalb ich mich nicht traue. Ich hoffe nur, er hat genug Selbstbeherrschung, denn vor meinen Eltern wollte ich mich jetzt nicht unbedingt prügeln.

"Das ist dann also dein neuer Kumpel? Der, bei dem du letztens geschlafen hast?", fragt meine Mutter neugierig. Nicks Augen verdunkeln sich etwas, beim Gedanken an die Nacht, doch ich ignoriere ihn. "Nein, das war Mike, sein Bruder. Bei dem habe ich geschlafen. Nick ist der, mit dem ich mich letzte Woche geschlagen habe", gebe ich grinsend von mir.

Natürlich hatten meine Eltern meine Verletzungen nach der Prügelei in der Schule mitbekommen. Ich sagte ihnen einfach die Wahrheit. Dass ich einen abscheulichen Jungen kennen gelernt habe und wir uns gestritten hatten und dann auch geprügelt. Natürlich waren die zwei erst schockiert, doch ich hatte ihnen versichert, dass Nick noch mehr abbekommen hatte, was die beiden etwas beruhigte. "Wirklich?", fragt meine Mutter erstaunt. "Du schlägst also unsere Tochter!", mein Vater formulierte es eher als Aussage als als Frage. Nick fühlt sich immer unwohler, was ich merke, da er langsam Hilfe suchend nach meiner Hand greift. Ist wohl doch nicht so sauer auf mich wie erwartet. "Es tut mir wirklich leid und ich kann das auch erklären. Sie ist einfach auf mich losgegangen. Ich musste leider irgendwie mein Leben verteidigen!", wehrt er sich. Er ist wirklich gut, versucht die Stimmung aufzulockern. "Ja, die Kleine kann eine ganz schöne Furie werden", lacht mein Vater und legt ihm kurz die Hand auf die Schulter. Wenn meine Eltern wüssten, wie Ernst gemeint Nicks Aussage eigentlich war... "Wir gehen dann mal hoch!", rette ich uns Beide aus der Situation und zerre Nick hinter mir her in mein Zimmer. Dort angekommen reißt er seine Hand aus seiner und ich stelle mich auf Schläge ein, doch er zischt mich nur wütend an: "Du bist echt eine falsche Schlange! Erst lügst du mich an und dann erzählst du deinen Eltern auch noch, ich wäre ein Schläger!" "Ich habe nicht gelogen! Du weißt, dass ich das nicht kann!", wehre ich mich abrupt.  "Ganz ehrlich? Wenn es um dich geht, dann weiß ich gar nichts mehr!", ich senke meinen Kopf und warte auf mehr. Dass er mich anschreit, dass er mich schubst, dass er geht, dass er irgendwas tut, doch er steht nur da. "Bist du... also hast du... ich meine... was fühlst du?" Ich will wissen, ob er mich grade hasst, ob ich mich vorbereiten muss. Er antwortet mir nicht, doch plötzlich fühle ich etwas merkwürdiges. Mir wird schwindelig und ich setze mich vorsichtshalber auf meinen Schreibtischstuhl neben mir. Ich spüre ein rumoren im Bauch, Herzklopfen und Wut. Ich fühle mich von einem Menschen angezogen, ich will diesen Menschen, doch gleichzeitig will ich ihm auch wehtun. Die Gefühle heben sich auf, lassen mich ihm Zwiespalt stehen, machen mich unfähig zu Handeln. Ich versteh das nicht. Es sind nicht meine Gefühle.

Hass auf den ersten Blick?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt