39.: Ich atme ein

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"Erzählst du mir, was ich verpasst habe?", frage ich Mike, während unserer, bisher eher schweigsamen, Fahrt nach Hause. Sven und Nils wollten noch einen Tag in London bleiben und dann nachkommen, ich bin mir jedoch sehr sicher, dass sie mir nur die Chance geben wollten, erstmal anzukommen. Mike zieht fragend seine Augenbrauen hoch. "Ich meine bei dir, bei Jare, bei Mila, Bei
Clark, bei Clyde und verdammt ja, auch bei Brian." "Bei Jare hat sich nichts verändert, außer dass er nicht mehr mit Nick redet, nachdem er seinen Geburtstag, völlig besoffen verschlafen hat und dann, ebenfalls besoffen und sicherlich auch bekifft, bei seiner Geburtstagsfeier nur in Boxershorts die Treppe runter kam, sich wortlos die Torte genommen hat und mit nach oben genommen hat." "Er hat was?", kicher ich. Auch Mike muss schmunzeln. "Seit wann kann er so viel essen?" "Der Heißhunger vom kiffen", meint Mike nur und zuckt mit den Achseln. Ich nicke resigniert und mein kichern ist beendet.

"Von Brian hab ich nicht viel mitbekommen. Er studiert wohl irgendwas in der Nachbarstadt. Clyde ist immer noch der gleiche nervige Nerd und bei mir gibt es nichts neues." "Und Clark und Mila? Weißt du warum sich Clark und Eric getrennt haben?" "Naja... Clark meinte, es hätte nicht mehr gepasst." Ich schnaube. "Und was ist der wahre Grund?" "Keine Ahnung, es kann doch sein, dass es nicht mehr funktioniert hat?", versucht mike meine Schwester zu verteidigen. "Du weißt es, oder? Rück schon mit der Sprache raus!", drängle ich ihn. Er seufzt. "Weißt du, deine Schwester hat sich echt verändert. Sie ist sechzehn, also quasi eine junge Frau! Sie hat sogar schon größere Brüste als du, keine Ahnung wie sie das gemacht hat, sie-" "du schaust meiner Schwester auf die Brüste?", ich bin schon etwas entsetzt. "Ja", gibt er schlicht zu und zuckt mit den Schultern. "Verdammt sie ist meine kleine Schwester! Du kannst sie doch nicht einfach so angaffen!", ich bin wütend, ich gebe es zu. "Genau darauf will ich hinaus, Becca. Sie ist nicht mehr klein! Sie ist alt genug um Alkohol zu trinken, sie darf wählen und dürfte auch schon ein leichtes Motorrad fahren. Verstehst du was ich sagen will?" "Sie wird reifer?", meine ich leise. "Ja verdammt, das wird sie. Und da ist es normal, dass man sich nochmal umguckt." "Sie hat wen neues? OMG! Sie hat wen älteren!", jetzt macht es endlich Klick. "Becca, hör zu-" "wie alt?" "Das spielt doch echt keine Rolle-" "wie alt?", wiederhole ich streng meine Frage. "18. Im Winter 19. am 23. November, um
Genau zu sein." "Da wird Mila auch 19." murmle ich nur, während ich darüber nachdenke, ob ich das akzeptieren kann, wenn meine Schwester einen Kerl hat, der 2,5 Jahre älter ist als sie. Plötzlich kommt mir eine, geradezu absurde Idee. "Ist Mila wieder verliebt?", Mike seufzt. "Becca hör zu-" "Ist Mila mit meiner kleinen Schwester zusammen?" Frage ich nur. "Du warst ein Jahr weg, da kann nunmal viel passieren." "Mike! Ja oder nein?" "Ja", meint er leise. Ich nicke nur. Ich muss da erstmal drüber nachdenken. "Becca?", fragt Mike vorsichtig. Ich hebe jedoch nur meine Hand zur Abwehr.
Finde ich es ok, wenn meine kleine Schwester und meine beste Freundin ein paar sind? Also komisch ist es definitiv, aber habe ich überhaupt ein Recht, mich da einzumischen? "Sind die beiden Glücklich?", frage ich einfach die Frage, die doch am wichtigsten ist. "Was? Ääähm ja, sehr, denke ich." "Okay", meine ich nur. "Okay?", fragt Mike erstaunt. "Okay." Antworte ich ihm nur endgültig. Es ist in Ordnung, solange beide glücklich sind. Mike seufzt zufrieden und erleichtert auf. Wir fahren noch einige Stunden, bis wir ankommen.
Es sind nur noch 15km und ich habe etwas Angst davor, meine Eltern zu treffen, die ich ein halbes Jahr lang ignoriert habe. Mike scheint meine Unruhe zu merken. "Wenn du magst, kannst du heute Nacht noch mit zu mir kommen und dich dann morgen, ausgeschlafen, Deiner Familie stellen.", bietet er mir liebevoll an. Grade als ich antworten will, fällt er mir jedoch ins Wort: "und keine Sorge, du wirst Nick nicht über den Weg laufen. Er kommt immer erst früh morgens nach Hause und schläft dann bis nachmittags." "Und die Uni?", frage ich entsetzt. Mike sieht mich nur mit einem 'ich bitte dich' Blick an, was mich traurig werden lässt. Die Uni und sein Medizinstudium waren ihm doch so verdammt wichtig. Und wieder wird mir bewusst, welche Tragweite meine Tat hat. "Meinst du, dass ich ihm überhaupt einen Gefallen tue, wenn ich wieder in sein Leben trete? Ich will nicht alles noch schlimmer machen" "keine Sorge. Er will dich. Und er braucht dich auch. Du warst bisher die einzige auf die er gehört hat, abgesehen von unserer Mutter. Er hat sich sogar bei mir für sein Verhalten anfangs entschuldigt, nachdem ihr gesprochen habt." Ich nicke leicht, immer noch zweifelnd. "Wenn du dir wirklich sicher bist, dass wir uns nicht über den Weg laufen werden, dann würde ich gerne noch mit zu dir kommen", meine ich schließlich leise. Er nickt nur und zehn Minuten später stehen wir vor der Haustüre von Familie O'Neall. Es ist schon spät, die anderen schlafen sicher schon. Ist es ok wenn du bei mir schläfst oder soll ich dir das Arbeitszimmer fertig machen?" "Wenn es ok ist, würde ich bei dir schlafen. Ich bin einfach nicht gerne alleine wenn ich die Träume habe." Mike nickt nur verständnisvoll, stellt meine Tasche im Badezimmer ab und lässt mich dort alleine, mich fertig machen. Ich lasse die Tasche dort stehen und gehe in Mikes Zimmer. Dieser hat schon auf mich gewartet. "Ich möchte dir was zeigen.", meint er und zieht mich mit zu Nicks Zimmer und bevor ich mich wehren kann, stehe ich in Nicks Zimmer und schaue mich um. Es sieht aus wie immer. Mike geht zu dem Schreibtisch und winkt mich zu sich. Auf dem Schreibtisch sehe ich einige handbeschriebene Blätter und Zeichnungen liegen. Vorsichtig ziehe ich die Zeichnung hervor und erkenne mich selbst. Auf allen Zeichnungen bin ich zu sehen. Fragend blicke ich zu Mike, der mir jedoch eins der beschriebenen Zettel in die Hand drückt und anschließend das Zimmer verlässt. Ich beginne zu lesen. Es handelt sich um ein Gedicht, oder einen Songtext:

Seit du fort bist, geh ich kaum noch aus.
Besonders deine Gegend meide ich.
Und nur selten treff ich deine Freunde.
Sie fragen mich was ich jetz tu.
Was soll ich denn schon tun ohne dich.

Ich atme ein, ich atme aus.
Ich Setze ein Fuß vor den ander'n.
Bis ich alles das, was geschehen ist kapier.
Ich atme ein, ich atme aus.
Nehme ein Tag nach dem ander'n.
Bis ich endlich weiß, dass du wiederkommst zu mir.

Ich lebe von Erinnerung'n, sie bringen mich durch die Nacht.
Geh nochmal alles durch von Anfang an.
Und ich bleibe in der Hoffnung,
dass die Zeit schon alles richtig macht.
Bis dahin tu ich was ich kann.

Ich atme ein, ich atme aus.
Setze ein Fuß vor den ander'n.
Bis ich alles das, was geschehen ist kapier.
Ich atme ein, ich atme aus.
Nehme ein Tag nach dem ander'n.
Bis ich endlich weiß, dass du wiederkommst zu mir.
Bis ich endlich weiß, dass du wiederkommst zu mir.
(Eigentlich ein Song von Roger Cicero, aber einfach wunderbar passend. Das Lied findet ihr oben)

Ich habe Tränen in den Augen. Oben in die Ecke ist ein Datum gekritzelt. Ungefähr einen Monat nachdem ich gegangen bin. Ich frage mich, was daraus geworden ist. Das ist eine völlig andere Einstellung als seine jetzige. Hat er tatsächlich die Hoffnung aufgegeben? Ich lege den zettel zurück und will sein Zimmer verlassen, jedoch besinne ich mich etwas besserem, öffne den Kleiderschrank und klaue mir einen seiner Hoodies. Einen blauen. Es ist der, den ich ihm am Morgen nachdem wir zusammengekommen sind geklaut habe. Ich habe ihn immer getragen, wenn ich bei ihm war. Und immer, nachdem er frisch gewaschen wurde, musste er ihn einen Tag tragen, damit er auch nach ihm riecht. Ich ziehe ihn über, stecke meine Nase in den Ausschnitt und atme tief ein. Sofort überkommt mich eine Ruhe und nach dem ganzen Jahr, in dem ich herumgereist bin, fühle ich mich endlich, als wäre ich angekommen, wo ich hingehöre. Ich will grade die schranktüre schließen, als mir etwas auffällt. Da, wo eben noch der Pulli gelegen hat, liegt jetzt ein Päckchen. Fast so, als wäre es unter dem Pulli versteckt worden. Beim genaueren betrachten erkenne ich das Päckchen. Es ist sein Geburtstagsgeschenk von mir vom letzten Jahr. Er hat es also nicht geöffnet. Vorsichtig nehm ich es heraus. Irgendwie ist es mir unangenehm, sollte er es doch noch öffnen. Es ist einfach echt viel passiert. Ich gehe nochmal ins Bad und stopfe dort das Geschenk in meine Tasche, die ich anschließend mit in Mikes Zimmer nehme. Er liegt schon im Bett, schläft jedoch noch nicht. Er ist am Handy und schreibt grade wem. Als er mich sieht, muss er Grinsen. "Wie in alten Zeiten", murmelt er und zupft an dem Hoodie. Ich muss leicht lächeln und lege mich neben ihn ins Bett.

Hass auf den ersten Blick?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt