Kapitel 2

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Ich brauche nicht lange um zu entscheiden, was ich tun werde. Ich tausche meine Kleidung auch nicht in etwas Bequemeres für einen langen Fußmarsch (ich meine, wer weiß, wohin Marius auf dem Weg ist?). Mein langes Kleid ist zwar wenig angemessen, um durch Paris zu laufen, und Großvater und meine Tante würden wahrscheinlich aus der Haut fahren, wenn ich es beschmutze, doch das sind meine kleinsten Sorgen im Moment. Ich renne los um meine Haube, mein Halstuch und meine kleine Tasche aus meinem Zimmer zu holen. Während ich aus dem Raum gehe, setze ich mir die Haube auf und lege mir das Tuch über meine Schultern. Ich versuche so langsam und leise wie ich kann durch den Flur zu der Treppe zu gelangen.  Ich erreiche den Anfang der Feststiege, welche die Eingangshalle des Hauses ziert. Sein Arbeitszimmer liegt auf der einen Seite und unser Aufenthaltsraum und Salon auf der anderen. Von der ersten Stufe aus kann ich Großvater mit meiner Tante in seinem Arbeitszimmer reden hören. Ich schleiche die Treppe hinunter und hoffe, dass weder meine Tante, noch Großvater meine Schritte hören, was beinahe unmöglich umzusetzen ist, in den Absatzschuhen die ich tragen soll. Als ich das Ende der Treppe erreiche, läuft eine der Mägde, Maggie, vorbei.
"Sie gehen raus, Miss?", fragt sie fröhlich.
"Ähm...", ich räuspere mich. "Ich mache nur ein paar...äh...Besorgungen.", raune ich dann. "Aber...falls Großvater oder meine Tante fragen...ich bin in meinem Zimmer. Und...du hast nichts gesehen...okay?", ich lächle ein wenig, inständig hoffend, dass sie mein Geheimnis für sich behalten wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie das für mich tut. "Bitte Maggie?".
"Okay Miss. Ich habe nichts gesehen!", flüstert sie und zwinkert mir zu."Danke Maggie!", ich atme erleichtert aus und gehe zur Tür. "Und...ich sagte bereits, du musst mich nicht Miss nennen.", ich hebe eine Augenbraue, als ich mich noch einmal zu ihr umdrehe. "Entschuldigung, Mi-", beginnt sie, bevor sie sich selbst verbessert. "...Juliette!", sie kichert. "Nenn mich Jules, oder Julie, beides ist in Odnung, wirklich.", ich lächle sie erneut an. "Danke noch einmal, Maggie...Wir sehen uns später.", ich öffne die Tür und verlasse das Haus, bevor mich noch jemand bemerkt.

Ich sehe mich um und erblicke Marius in der Ferne - es ist unmöglich ihn einzuholen. Ich beginne zu rennen, doch meine Schuhe erschweren mir das und ich möchte Marius nicht komplett einholen, da er mich dann sehen könnte. Stattdessen versuche ich leise zu rennen um ihm nur näher zu kommen, immer ein wenig Abstand zwischen uns. Dabei versuche ich meinen Rock vom Boden fern zu halten.
"Dieses Kleid und diese Schuhe sind nicht zum Rennen gemacht!", murre ich leise. Endlich bin ich nah genug an Marius dran, sodass ich aufhören kann zu rennen. Ich versuche beim Laufen wieder zu Atem zu kommen, doch ich laufe immer weiter, dass ich nicht erneut zurückbleibe. Großvaters Haus liegt in einer ländlichen Gegend, das bedeutet, man benötigt ungefähr dreißig Minuten bis zur nächsten Stadt. Nach zehn Minuten beginnen meine Füße in diesen dummen Schuhen zu schmerzen. "Ich hasse diese Schuhe und ich hasse dieses Kleid!", murre ich wieder. Es stört wirklich bei diesem Ausspionieren.
Irgendwie schaffe ich es nahe bei Marius zu bleiben, doch trotzdem weit genug entfernt, sodass er mich nicht sieht. Er pfeift beim Laufen, seinen Koffer in der einen Hand, den Mantel in der Anderen, während er jeden anlächelt, dem er begegnet und jeder Dame höflich zunickt. Als wir in die Stadt gelangen wird es schwieriger meinen Bruder im Auge zu behalten, da er hin und wieder in den Menschenmengen verschwindet. Dies ist das erste Mal, dass ich allein in der Stadt bin. Großvater oder Marius haben mich immer begleitet - ich war nie allein, weshalb ich nun etwas nervös werde. Ein Teil von mir möchte zu Marius eilen, sodass er mich beschützt, doch das würde alles ruinieren und er würde mich wahrscheinlich einfach zurück nach Hause schicken.
Er stoppt bei einigen Gasthäusern und anderen Gebäuden, während er nach einer leerstehenden Wohnung zu einem angemessenen Preis sucht. Wenn er ein Gebäude betritt, warte ich draußen und stehe an einer nahen Ecke, versteckt, auf dass er mich nicht sieht. Sobald er wieder auftaucht, beginne ich ihm wieder zu folgen. All das geschieht ein paar Mal, bis er endlich eine Wohnung gefunden hat, wo er leben kann. Dieses Mal betritt er das Gebäude und bleibt dort für ungefähr zwanzig Minuten - ich vermute, dass das bedeutet, dass er das gefunden hat, was er gesucht hat. Während ich auf der anderen Straßenseite verweile, entdecke ich einen kleinen Jungen. Er ist vom Schutz bedeckt und in Lumpen gekleidet und im Herzen tut er mir so leid. Das passiert mir jedes Mal, wen ich an den Armen in der Stadt vorbei gehe. So etwas sieht man selten in der Nähe von Großvaters Haus. Ich sehe zur Tür des Gebäudes, in das Marius verschwunden ist, doch ich sehe nichts was darauf hindeutet, dass bald jemand heraus kommt. Also entscheide ich die Bäckerei eine Straße weiter zu besuchen. Ich weiß, dass ich etwas Geld bei mir habe und, dass ich es nicht brauchen werde. Jemand wie dieser kleine Junge wird einen besseren Nutzen für das Geld haben als ich. Ich kaufe etwas frisches Brot und ein kleines Törtchen, dann gehe ich vorsichtig auf den Jungen zu, der nun an der Wand saß, wo ich davor stand. Ich hocke mich vor ihm hin und lächle ihn an.
"Ich möchte, dass du das hier hast...", ich weiß nicht genau was ich zu ihm sagen soll. Nichts fühlt sich richtig an, doch das war das Beste. Seine Augen werden ganz groß, als er den Beutel mit dem warmen Essen erblickt, den ich ihm reiche. Er schauft ein wenig. "Dankeschön Miss!", er springt hoch und nimmt den Beutel entgegen. "Das habe ich gerne getan.", ich lächel ihn noch einmal an. Ich habe noch nie ein Kind gesehen, dass sich so sehr über einen Laib Brot freut. Plötzlich überkommen mich Schuldgefühle - es bedeutet diesem kleinen Jungen so viel. "Und ich danke dir!", ich nicke ihm zu. "Wofür?", er legt seinen Kopf zur Seite, während er sich ein Stück Brot abreißt. "Du hast mir heute etwas beigebracht.", ich lache ein wenig, während ich ihm eine blonde Locke aus dem Gesicht streiche. Dann stehe ich langsam auf und gehe wieder zurück, sodass ich weiter auf meinen Bruder warten kann.
"Miss!", höre ich die junge Stimme rufen. Ich drehe mich um, um ihn anzusehen. "Wie ist Ihr Name, Miss?", fragt er mich, während er nun steht, wie ein junger Mann. "Juliette.", ich sehe ihn nun noch einmal genau an. "Wie ist dein Name?". "Gavroche!", er lächelt mit dem größten Lächeln, das ich je gesehen habe.
"Möge Gott dich segnen, Gavroche.", sage ich leise, als ich ihn dabei beobachte wie er die Straße entlang rennt, den Beutel mit dem Essen in der Hand.

The Barricade Girl //Übersetzung//Translation//Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt