11. Mark

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Das Abendessen verlief ruhig. Niemand von uns sprach auch nur ein Wort. Stattdessen grinsten wir uns über den Tisch weg hin an und brachen jedes Mal schier in Gelächter aus, so kindisch kam uns die Situation vor.

Nach dem Dessert gingen wir wieder hoch in Richtung unserer Zimmer. Ich konnte von Glück reden, dass wir eine der Letzten waren, die die Gaststube verließen. Denn die höhnischen Blicke des Deutschen Nationalteams hätte ich wohl kaum verkraften können.

Die entspannte Stille zwischen uns wandelte sich vor seiner Zimmertür in eine angespannte um. Ich verschränkte meine  Hände hinter meinem Rücken, während er seine unentschlossen gegen seine Oberschenkel schlug, so als wolle er seine Muskeln auflockern.

„Willst du vielleicht noch mit rein kommen?", fragte er mich und deutete auf seine Zimmertür. „Ich würde mich geehrt fühlen", sagte ich mit einem strahlenden Lächeln und auf Max Gesicht bildete sich ein erleichtertes Grinsen. Er holte seine Schlüsselkarte aus seiner Hosentasche und sperrte anschließend sein Hotelzimmer auf.

Ich trat nach ihm ein und blickte mich anschließend bewundernd in seinem Zimmer um. Ich konnte nicht meckern, anscheinend hatte er Annes und mein Hotelzimmer auf dasselbe Niveau gehoben. Denn unsere Zimmer saßen identisch aus. Außer vielleicht der Tatsache, dass es in Annes uns meinem Zimmer viel unordentlicher aussah wie in seinem.

„Tut mir leid für die Unordnung", sagte er und beugte sich über seinen Koffer um das darin herrschende Chaos etwas zu verstecken. „Ist doch kein Problem. Du solltest mal unseres sehen", meinte ich nur und trat vor die große Panoramascheibe, die direkt ihren Blick auf die Skischanze freigab.

„Wie kannst du dich das nur trauen? Von so einer Höhe mit einer so rasanten Geschwindigkeit nach unten zu fliegen und dabei dann auch noch sicher zu landen?", flüsterte ich und zuckte erschrocken zusammen, als Max seine Hand auf meine Schulter legte. Ich sah zu ihm auf und musterte seinen Gesichtsausdruck.


„Es ist nicht einfach. Aber Angst habe ich keine. Es ist eher ein Adrenalinschub den du hast, wenn du springst. Die letzten Zehn Minuten vor dem Sprung sind die Schlimmsten. Vor allem wenn du als Letzter springen musst. Aber das Gefühl ist unbeschreiblich. Du hast diesen hohen Adrenalinpegel, dann springst du und das alles ist innerhalb von wenigen Sekunden erledigt. Es dauert nicht einmal eine Minute. Aber die paar Sekunden die man fliegt, in höchster Konzentration, das sind die Sekunden, die alles entscheiden. Man vergisst alles, konzentriert sich nur auf seinen Körper und alles andere scheint unwichtig. Es ist die pure Freiheit. Das Einzige Problem, das wir tatsächlich haben ...", sagte er und brach ab.

„Was ist los?", fragte ich ihn und blickte dabei besorgt zu ihm auf. „Na ja, so viel Geld wie Fußballer verdienen wir nicht", er schüttelte seinen Kopf. „Das Geld, das wir verdienen, wenn wir eine gute Saison haben, reicht gerade mal dafür aus alle Hotelrechnungen und Flüge und was weiß ich alles noch zu bezahlen. Selbst wenn uns die FIS und der DOSB Zuschüsse garantieren. Das Preisgeld, das wir für einen Sieg bekommen, ist bei Fußballern das Geld, das sie für ein Interview bekommen. Wir müssen darum kämpfen nicht in die Schulden zu fallen, während die lässig in ihrem Pool liegen können und sich von vorne bis hinten bedienen lassen. Das ist nicht fair. Wir trainieren das ganze Jahr, nur um ihm Sommer auf Gras zu springen und im Winter von einem Land in das andere zu reisen, mit Jetlag klar kommen zu müssen und innerhalb von wenigen Sprüngen perfekt auf die Schanze eingestimmt zu sein. Bei Fußballern ist es egal. Der Platz und die Maße sind immer gleich", beschwerte er sich und wirkte dabei kraftlos. Besorgt sah ich ihn an und fuhr mir meiner Hand durch seine Haare. Ich konnte seine Sorgen gut verstehen.

„Warum springt dein Bruder nicht mehr?", fragte Max leise und überraschte mich mit diesem rasanten Themawechsel. Ich schüttelte nur wortlos meinen Kopf. Ich würde es ihm vielleicht in einigen Monaten erzählen, doch im Moment wollte ich diesen Augenblick nicht zerstören. „Vielleicht ein andern Mal", meinte ich leise und blickte kurz zu ihm auf.

Wie ich lernte zu fliegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt