Kaputter Wolf

169 19 0
                                    

Der Unterricht, den ich bis zur Mittagspause besuchte, war definitiv anders als das, was ich bisher gewohnt war.

Die Lehrer hatten Bryan immer seltsam gemustert, einige ein "Willkommen zurück" gemurmelt, doch ich bekam nie die Gelegenheit, ihn danach zu fragen, wieso das so war.

Die Schüler um uns herum waren in den meisten Fächern an die vierzehn und damit reichlich jung. Nur in den Fächern, die ich bereits aus meiner... Welt kannte, saßen wir mit Gleichaltrigen, und hier war es auch, dass Bryan sich mit dem Stoff anstrengte und mitschrieb.

Vor allem der Rudelunterricht schreckte mich jedoch ab, während es gleichzeitig eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich ausübte. Das Thema der Rudelmentalität wurde behandelt, und der Lehrer fragte die Schüler gern auch mal nach ihren eigenen Erfahrungen.

Die meisten hatten bereits intuitiv verstanden, dass die Stimmen, die sie hörten, wenn sie sich verwandelten, die des Rudels waren, zu denen sie gehörten. Wir behandelten hier die psychologische Ebene des Gemeinschaftsgefühles, das dadurch entstand. Das andersartige Denken eines Wolfes war dann für jeden einzelnen aus dem Rudel greifbar, und Geheimnisse konnten schlechter verborgen werden, als es für Menschen möglich war.

Das Rudel war damit auch gedanklich seinem Anführer - oder eben den höherrangigen Wölfen - unterstellt und ohne Zweifel loyal.

Ich war skeptisch den Rängen gegenüber, und irgendwann beschloss ich, dass das Buch eine gute Möglichkeit war, verpassten Stoff nachzuholen. Tatsächlich fand sich auch zu diesem Thema etwas - Rudel als Familie, Gemeinschaft oder Gruppe?, lautete eine Überschrift.

So wie Bryan es erzählt hatte handelte es sich an dieser Schule um Gruppen. Diese hatten Ränge notwendig, um zu funktionieren, denn sonst könnte jeder einfach etwas beschließen, und das Rudel wäre sehr schnell einfach nur ein zusammengewürfelter Haufen aus Individuen.

Doch das war nicht das Ziel. Ein Rudel musste zur Verteidigung und zum Überleben funktionieren. Und das war in einer Gruppe nur mit Rängen möglich.

Es wurde angeschnitten, dass kleinere Gruppen eher feste Ränge hatten, wohingegen größere Gruppen - wie es bei uns der Fall war - durch ständige Neulinge und Regelverletzungen und anderem eine viel größere Rängefluktuation hatten.

Hier fing mein Kopf bereits an, vor Informationen zu schwirren, doch ich zwang mich dazu, die Doppelseite bis zum Ende zu lesen.

Eine Gemeinschaft hatte viel mit einer Gruppe gemeinsam. Hier lag der Fokus jedoch auf dem Alter der Personen, körperliche Stärke war von großer Bedeutung für die Ränge, da alte Wölfe oder Babys sich wohl kaum selbst beschützen konnten. Das übernahmen dann die starken und jungen, wobei Ränge hier wohl auch auch aus Familien hervorkommen konnten.

Und damit wäre man beim letzten Punkt - Familien. Damit war nicht wirklich einfach eine Familie gemeint, die Eltern und Kinder und vielleicht Großeltern hatte, sondern ein kleiner Zusammenschluss zwischen wenigen Wölfen einer Gruppe. Eine Kleingruppe konnte in Theorie aus ein oder maximal zwei Familien bestehen, eine Großgruppe hingegen aus mehreren hundert.

Das machte die Rudelzugehörigkeit im Grunde überhaupt erst aus. Man schloss sich mental einer Gruppe an - wie das geschah wurde hier nicht genannt - und gehörte dann zu ihnen, und sie alle zum Rudel. Durchschnittlich, so der Text, war ein Wolf in seinem Leben Teil von fünf Familien, und das natürlich immer nur eine auf einmal.

Okay, rekapitulieren. Soweit ich es verstanden hatte gab es an dieser Schule mindestens drei Rudel - die der Lehrer, die der Studenten und die der Schüler. Vielleicht sogar auch die der Professoren - was wusste ich schon? Klang auf jeden Fall logisch.

Mondflüstern - Die Legende der WölfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt