Falscher Verdacht

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Tränenüberströmt drücke ich die Türklinke hinunter. Recep der die ganze Zeit bei mir war, sprintet, wie vom Teufel höchst persönlich gejagt, davon.
"Lukas! Meine Güte, was ist denn mit dir passiert!?", kreischt meine Mutter bestürzt:
"Und wer ist der, der da gerade davonläuft!?"
Wütend werfe ich meine Schultasche in eine Ecke, reiße mir die Jacke vom Körper und schleudere die Schuhe mit einer harschen Bewegung der Füße unter die Kommode.
"Lukas? Was ist denn?", will meine besorgte Mama nun endlich wissen, greift mich am Kopf und dreht mein Gesicht zu ihr:
"Oh, mein Gott, du blutest ja! War das etwa dieser Junge, der gerade weglief?!"
Ohne ihr eine Antwort zu geben stürme ich hinauf in mein Zimmer. Das ganze Haus erbebt, als meine Tür von mir in Schloss geworfen wird. Bedrohlich klackt der Schlüssel.
Ich bin alleine.
Mit dem Gesicht voran falle ich auf mein Bett.
Sofort durchnässen meine Tränen das gesamte Kopfkissen.
Verzweifelt rüttelt Mama an der Tür.
"Lukas! Das bringt doch nichts!"
Immer und immer wieder versucht sie es.
"Lass mich in Ruhe!", brülle ich irgendwann zurück.
Eine halbe Stunde lang versucht sie, mich aus meinem Zimmer zu holen.
Dann kommt Papa heim. Endlich habe ich meine Ruhe.
Resigniert und hilflos schleudere ich das blutige, nasse Kopfkissen gegen das Fenster.
Durch die Tür höre ich, wie Mama Papa erzählt, was los ist.
Keine Sekunde später donnert mein Vater los:
"Das müssen diese verdammten Ausländer gewesen sein! Offenbar haben die nichts Besseres zu tun, als auf der faulen Haut zu liegen, sich von unseren Steuergeldern zu ernähren. Dagegen habe ich ja noch nichts gesagt. Aber mein Sohn!? Jetzt ist der Bogen eindeutig überspannt! Komm Trude, wir gehen zum Direktor. Das muss nun endlich ein Ende haben!"
Vollkommen aufgelöst kommen sie eine gute Stunde später wieder heim. Und mein Papa hat sich keineswegs beruhigt. Noch immer tobt und wütet er:
"Wie kann das denn überhaupt sein? – Ich meine, das muss doch jemand gesehen haben?"
Schwer trampeln seine Schritte die Treppe herauf.
Polternd klopft er an meine Tür:
"Lukas? Sperr auf. Wir müssen darüber reden."
In seiner Stimme höre ich offenen Hass und unterdrückte Wut mitschwingen.
Auch er gibt irgendwann auf.
Die Stunden vergehen.
Stumm wacht der Mond über mir, als ich mich in meine Decke einwickle.
Ich wünschte, es wäre alles nur ein Traum gewesen.

Früh am nächsten Morgen verlasse ich das Haus, als meine Eltern noch tief und fest schlafen.
Zwei Minuten klopfe ich an Receps Tür.
Müde Schritte sind zu hören.
Dann öffnet mir Receps Vater in seinem Morgenmantel ganz verschlafen die Tür. Seine Haare sind schon leicht angegraut und sein Blick lastet müde auf mir.
"Lukas? Was machst du denn so früh hier?"
"Ich versuche meinem Vater aus dem Weg zugehen..."
"Aber wieso denn das?", will er ganz verwundert wissen.
"Eine lange Geschichte...", murmle ich zurück.
Freundlich bietet er mir an:
"Dann komm doch erstmal herein."
Receps Vater führt mich in die Küche und lässt mich am Esstisch Platz nehmen.
Geruhsam setzt er etwas Teewasser auf und kramt aus einem Kasten einige Pralinen hervor.
Süßlicher Duft erfüllt die Küche, als er mir eine Tasse Tee einschenkt und zwei Schokopralinen vor mich legt.
Er selbst nimmt nur den Tee.
Ruhig und gelassen genießt er einen Schluck.
Nun will er natürlich erfahren, warum ich hier bin.
So beginne ich, während ich die Teetasse umklammere, mit zittriger Stimme zu erzählen:
"Es war erst nur ein Streit. Aber es ist immer schlimmer geworden."
"Über was hast du denn mit deinem Vater gestritten?", fragt er sanft.
"Nicht mit meinem Vater, sondern mit einem Viertklässler, Julian heißt er. – Zuerst sagte er, ich wäre dumm. Natürlich habe ich das nicht auf mir sitzen lassen. Kaum habe ich erwidert, dass er selber dumm wäre, hat er schallend angefangen zu lachen. Aufgehört mich zu nerven, hat er trotzdem nicht. Er hat mir alle möglichen gemeineren Dinge an den Kopf geworfen. Das war vor zwei Wochen. Mit jedem Tag ist die Sache schlimmer geworden. Manchmal hat er sogar nach der Schule auf mich gewartet, nur um mich zu beleidigen. Gestern dann –", meine Stimme versagt mir.
"Hier, iss etwas Schokolade." Receps Vater drückt mir eine Praline in die Hand.
Dankend stecke ich sie mir in den Mund.
Wärmend zergeht sie auf meiner Zunge.
Kurz nippe ich am Tee.
Der süße Geschmack beruhigt mich.
Einmal noch schlucke ich und fahre dann fort:
"Gestern dann – hat mich dieser gemeine Kerl auf der Treppe geschubst. Ich bin die letzten drei Stufen hinuntergefallen und habe mir die Nase aufgeschlagen. Recep hat das gesehen, ist mir zu Hilfe geeilt und hat mir aufgeholfen. Julian hat daraufhin zu Recep noch gemeinere Sachen gesagt, als zu mir. In meiner Wut wollte ich Julian dann umschubsen. Es hat in einer Schlägerei geendet. Recep und ich sind nicht gut davongekommen. Anschließend hat er mich heimbegleitet. Mein Vater mag keine Leute wie ihn oder Sie. Er sagt zu ihnen ungefähr dieselben Sachen, wie Julian. Deshalb ist Recep auch aus Angst davongelaufen, als er gesehen hat, dass sich meine Haustür geöffnet hat. Meine Mutter hat das dann so verstanden, dass Recep derjenige wäre, der mich so zugerichtet hat. Was meinem Vater nicht wirklich gefallen hat. - Wenn ich ihm erzählt hätte, was wirklich passiert ist, hätte er mir für Ewig und drei Tage Hausarrest gegeben."
"Wieso denn das?", will Receps Vater von mir wissen. Ich glaube, er kennt die Antwort bereits.
"Weil...", stocke ich:
"Weil ich mit Ihnen und Recep rede und eure Hilfe annehme..."
"Aber die Hilfe eines anderen anzunehmen ist doch nichts Schlimmes?" Warum fragt er noch weiter.
Mein Vater mag keine Ausländer, ist das nicht mittlerweile offensichtlich?
"Doch, mein Vater meint, wenn man Hilfe braucht oder annimmt, sei man schwach. Ganz besonders, wenn einem ein Ausländer hilft", leise hänge ich an:
"Er mag euch nicht, am liebsten würde er euch alle davonjagen."
"Und wie siehst du das?"
"Ich mag euch. Ich finde nicht, dass jemand ein schlechter Mensch ist, nur weil seine Haut eine andere Farbe hat und er eine andere Sprache spricht."
Eine lange Pause entsteht. Keine Ahnung, wie er das aufnimmt.
Tief atmet er durch:
"Weißt du, du und ich, wir haben etwas gemeinsam. Beide sind wir Flüchtlinge. Vertrieben wegen ihren Gefühlen und Einstellungen."
"Hä?"
"Na, du bist von zu Hause geflohen, weil dein Vater deine Ansichten nicht teilt – sie sogar verabscheut. Meiner Familie und mir ist es ähnlich ergangen..." Tief sitzende, schmerzvolle Erinnerungen lassen ihn verstummen.
"Aber man hat Ihnen doch geholfen. Deshalb leben Sie jetzt hier", will ich ihn aufmuntern.
"Da hast du Recht", einmal schnieft er noch, bevor er meint:
"Wenn du möchtest, will auch ich dir helfen."
"Wie könnten Sie mir den helfen?", gebe ich niedergeschlagen zurück. Ich kann ja wohl schlecht hier einziehen.
"Zuerst werde ich dich und Recep heute in die Schule begleiten. Dort klären wir dann das Problem mit diesem Julian. Anschließend werden Recep und ich dich nach Hause bringen. Dann können ich und dein Vater dieses Problem friedlich aus der Welt schaffen. Ich glaube nicht daran, dass Menschen sich nicht ändern könnten. - Denn im Grunde sind wir ja alle gleich..." Wieder lassen alte, grausame Erinnerungen, die er am liebsten vergessen würde, ihn verstummen.
"Sie kennen meinen Vater nicht", entgegne ich.
"Nein, das tue ich nicht. Aber dein Vater ist genauso ein Mensch wie du und ich. Niemand macht absichtlich etwas Dummes. Und wenn sie es doch tun, dann wissen sie es einfach nicht besser."

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