Lauf Junge, lauf!

21 5 0
                                    

"Lauf Junge, lauf!", raunt er mir zu, schiebt mich an sich vorbei durch die Menschenmenge hinter seinen Marktstand. Verschreckt kauere ich mich hinter diesen, drücke den Laib Brot in meinen Händen an meine Brust.
Lauf! hämmert die Stimme in mir. Nicht stehen bleiben!
Kettenhemden rasseln, schwere Stiefel trampeln über das Kopfsteinpflaster.
"Platz da!", tönen die Rufe der Wachen über die geschäftige Straße: "Aus dem Weg!"
Ich wage einen hastigen Blick über den Rand des Standes. Die Männer schieben die Masse auseinander, argwöhnische Blicke durchbohrend jeden einzelnen und besonders die Kinder. Vor allem jene, die wie ich abgerissene Kleidung und verfilztes, schwarzes Haar tragen.
Der dickliche Marktbudenbesitzer baut sich vor den schwer bewaffneten Männern auf, stemmt die Hände in die Hüfte: "Was fällt den Herren eigentlich ein, meine Kundschaft derart zu belästigen?"
Sein Diskurs mit der Wache verschafft mir gerade genug Zeit, hinter einen vorbeifahrenden Karren zu schlüpfen und in dessen Deckung das Weite zu suchen.
Viel hätte nicht gefehlt und ich wäre über das Bein eines gehässig lachenden Lehrburschens gestolpert. Langsam, mit einem breiten, schadenfrohen Lachen auf den blassen Lippen öffnet er seinen Mund. Das einzelne Wort fährt in mich mehr noch, als es der Schreck über das plötzliche Auftauchen der Wachen vorhin getan hat. Und ehe er noch dazu kommt, es richtig auszusprechen, presche ich davon.
"DIEB!", hallt es hinter mir quer über die Köpfe der verdutzten, träge reagierenden Menschen hinweg.
Nur noch verschwommen nehme ich ihre Gesichter, Gewänder und Einkäufe wahr. Nichts ist im Moment weniger von Belangen.
Lauf Junge, lauf.
Dort, eine Seitengasse. Das Eckgasthaus "Tiefblick", genau hier muss ich vorbei. Weiter, einfach nur weiter.
Links von mir kippt eine Frau unvermittelt ihr Spülwasser auf die Straße. Hart schlage ich auf den Pflastersteinen auf.
Wilde Rufe dringen an mein Ohr. Klappernd wie der Wagen eines Topfhändlers donnert der Wachtrupp um die Ecke.
"Da! Dort vorne ist er! Jetzt haben wir ihn!"
Weit gefehlt.
Mein Adrenalinrausch lässt mich die Schmerzen nicht wahrnehmen. Im allerletzten Moment schlüpfe ich unter der ausgestreckten Hand des vordersten Wachmannes durch und hechte zwischen zwei unbescholtenen Passanten durch, rolle mich mit einer Hand ab, während die andere weiterhin den Laib Brot umklammert hält. Meine Handfläche beginnt zu brennen, Während ich weiterspurte werfe ich einen hastigen Blick auf sie und über meine Schulter. Hinter mir nichts neues, nur vier großgewachsene, wütende, bis an die Zähne bewaffnete Wachmänner. In meiner aufgeschürften Hand kleine Kieselsteine und Straßendreck. Das wird sich entzünden...
"Haltet den Dieb!", schallen ihre verbalen Versuche, Leute dazu zu bringen, mich einzufangen durch die Gasse, welche mit jedem Schritt enger zu werden scheint.
Wie gut, dass ich diese Gegend fast so gut kenne, wie die löchrige Tasche meiner jahrealten, braunen Hose.
Zehn Meter später schlage ich einen scharfen Hacken nach rechts, höre einige meiner Verfolger während ihres überstürzten Abbremsmanövers ineinanderlaufen und infolgedessen träge wie Mehlsäcke umfallen.
Hier ist er, der Eingang zu den Katakomben. Eilig reiße ich die Bodenluke auf und schlittere rücklings die glitschige Rampe hinunter in die Dunkelheit.
Oben kommen gerade die Wachen zum Stehen.
"Ja was denn?!", brüllt einer von ihnen: "Hinterher!"
"Aber...", protestiert einer beim Hinabsteigen.
"Nichts ABER!", endet die kurze Diskussion, welche mir wieder wertvolle Sekunden verschafft hat.
Bis sie es endlich einmal geschafft haben, sich neu zu organisieren, bin ich schon meilenweit weg und um zwei Ecken gebogen. Nur das Platschen meiner Schritte in den Pfützen des engen, verwinkelten Weges weist ihnen den Weg. Feuchte, stinkige, neblige Luft wabert durch die Katakomben.
Schräg an die algige, modrige Wand gepresst schiebe ich mich so schnell es geht durch einen schmalen Durchgang und stolpere in eine Kammer, welche, den Spinnennetzen nach zu urteilen, schon jahrelang niemand mehr betreten hat.
Hier drinnen war ich noch nie...
Aber so sehr es mich reizen würde, mich genauer umzusehen, so sehr zuckt es auch durch all meine Sinne, dass ich dafür kein Bisschen Zeit habe. Alleine für einen schnellen Blick auf eine unleserliche Innschrift in der Felswand reicht es, bevor mich das wiederhallenden Keuchen und Rasseln meiner Verfolger weitertreibt.
Lichtquellen gibt es hier unten nur vereinzelte, ab und an hängt irgendwo eine Fackel herum. So nimmt die ganze Szene einen umso grusligeren Flair an, der sich verstärkt mit jedem Mal, da meine Schatten oder die der Wachen über die grobbehauenen Wände tanzen.
Noch eine Abzweigung, der Gestank verstärkt sich. Ich kann gerade noch so abstoppen und nach rechts springen, bevor ich in der einzigen Abwasserrinne der Stadt lande. Ein schmaler Weg an ihrer Seite führt in Richtung Norden in Richtung Stadtplatz, meine kleine, flinke, wendige Wenigkeit jedoch muss in die Bezirke im Osten.
Hinter mir vernehme ich erschrockenes Geschrei, als die Wachen erkennen, dass sie mit vollem Tempo auf glitschigem, rutschigen Boden in Richtung des Abwassers laufen.
Unglücklicherweise bleibt die Musik, die Geräusche eines in eben jene Wassermassen Stürzenden, aus, wird stattdessen durch metallisches Scheppern von Schwertern und Kettenhemden ersetzt. Mist! Im wahrsten Sinne des Wortes...
Weiter, nicht stehen bleiben.
Zwischen zwei meiner schnellen, Wasser verspritzenden Schritten vernehme ich einen Hammer auf einen Steinblock niederfahren. Keine zwanzig Meter vor mir ist eine Abzweigung, an der Wand tanzen Schatten von Arbeitern.
Um ehrlich zu sein will ich mit denen im Moment keine Bekanntschaft machen - man weiß bei Kerlen dieser Art nie, woran man ist...
Verdatterte Blicke spüre ich in meinem Rücken, für einen Moment setzen die Hammerschläge aus. Kaum passieren die Wachen, setzt der Lärm erneut ein.
Okay, wenn ich mich nicht vollkommen täusche, sollte ich nach der nächsten Rechtskurve vor einer Leiter sein, die mich zurück an die Oberfläche führt.
Von hinter mir höre ich schweres Keuchen. Diese selbstgefälligen, dekadenten, faulen Männer von der Stadtwache haben noch nie wirklich lange durchgehalten.
Naja, was Pech für sie ist, ist eben Glück für mich. Und vor allem weitere wertvolle Sekunden. Welche ich dringen brauche, um die schwere, feuchte Holzabdeckung vom Ausgang wegzuschieben. Unter mir schlagen gepanzerte Hände auf das rostige Eisen der jahrzehntealten, locker in den Verankerungen liegenden unteren Sprossen der Leiter.
Ungeachtet des verdatterten Lehrburschens, der soeben dabei ist, einen Wagen voller Getreidesäcke abzuladen und in das Lager eines Bäckers zu tragen, klettere ich in den sich mir öffnenden Innenhof. Und finde bis auf einen schmalen Durchgang mitten durch ein Wohnhaus direkt gegenüber von mir keinen Ausgang.
Nun ist es an der Zeit für mich, der Unglückliche zu sein: ebenjener einzige Fluchtweg wird von zwei Wachen flankiert, welche im Moment zu meiner Erleichterung noch mit dem Rücken zu mir stehen.
Getrieben wie ein wildes Tier springt mein Blick hin und her, unentwegt auf der Suche nach einem Schlupfloch.
Es gibt nur eines.
Hastig stecke ich mir den Laib Brot unter das Hemd.
Verängstigt, ob meines plötzlichen Ansturms in seine Richtung stellt der Bäckerslehrling aus, macht mir den Weg zu dem Karren hin frei. Meine Füße tragen mich über die prallen Getreidesäcke bis ich mich am hinteren Ende kräftig abstoße und mit beiden Händen die Oberkante der Fensterläden des ersten Stockwerks zu fassen bekomme.
Unter Aktivierung aller meiner Reserven ziehe ich mich ächzend hoch, spüre, wie der Brotlaib unter meinem Hemd hin und her rutscht, durch den Gürtel jedoch am Hinausfallen gehindert wird.
Resigniertes Fluchen tönt zu mir herauf, der ich mittlerweile nach dem Fensterbrett des dritten und damit obersten Stockwerkes lange.
"Lasst ihn!", befiehlt jemand, fügt schadenfroh hinzu: "Sollen die Bogenschützen ihn sich holen!"
Gemeinschaftliches Lachen von den Wachen begleitet mich, wie ich mich gerade über die Dachrinne auf die rötlichen Ziegelsteine ziehe.
Lange kann ich nicht verweilen, so gerne ich wollte. Nicht mal so sehr, um zu verschnaufen, sondern eher, um dem Stadtrubel von oben herab zuzusehen, mir vorzustellen, ich könnte fliegen, würde nicht nur auf der Spitze eines Hauses stehen.
Aber wie gesagt, das geht nicht!
Lauf Junge! Lauf!
Drei, zwei, eins. Ich drücke mich wieder hoch, schaue mich kurz um, nur zur Sicherheit. Sogleich danach setzt auch schon das Klackern der Ziegel mit jedem meiner Schritte ein.
Wie geplant befinde ich mich am Rande der Ostbezirke. Und über die Dächer sollte es mir von hier an ein Leichtes sein, dort hinzukommen, wo ich hinwill.
In einiger Entfernung bemerke ich eine Bewegung auf der anderen Seite der Straße. Blöderweise hat diesmal die Taktik, nicht daran denken, dann passiert nichts, nicht geholfen. Kurz, nur für die Dauer eines einzelnen meiner schnellen Schritte treffen sich unsere Blicke. Und dieser eine Moment reicht ihm vollkommen als Grund aus, einen Pfeil aus seinem Köcher zu ziehen.
So muss ich jetzt nicht nur schnell sein, sondern auch noch darauf achten, mich immer schön hinter jeder möglichen Deckung zu halten, die sich mir auch nur irgendwie bieten mag.
Sirrend schlägt ein Projektil direkt vor meinen Beinen ein. In letzter Sekunde hechte ich hinter eine Dachschräge, eher der nächste nur Millimeter über meinen Haaren hinwegpfeift.
Dort, dort vorne ist dieses markante gelbe Eckhaus.
Ich bin fast da!
Nur noch zwei Straßen weiter.
Also runter von den Dächern.
Schwer lande ich einen Stock tiefer auf den Ziegeln, erspäe aber keine weitere Möglichkeit, noch weiter abzusteigen. Also eben über die Dachrinne...
Mit brennenden Händen und Füßen rutsche ich anderthalb Etagen tiefer, lasse mich das letzte Stück auf den rauen Pflasterstein hinabfallen.
Jetzt nur nicht stehen bleiben! Und vor allem nicht von dem Grüppchen Wachen aufhalten lassen, welches meine waghalsigen Kletteraktionen geduldig mit angesehen hat, nur um sich im rechten Moment auf mich zu stürzen wie ein Rudel Wölfe auf ein verletztes Rehkitz.
Aber die Menschenmenge verschafft mir Deckung, erkauft mir, der ich zwischen den Körpern durchschlüpfen kann, wiederum Zeit.
Noch eine letzte Querstraße, noch ein letztes Mal alles geben, noch ein letztes Mal all meinen Mut zusammensammeln.
Ich sehe ihr Gesicht durch das Fenster neben der Tür. Sie wartet dort auf mich.
Ein Lächeln zeichnet ihre Lippen, lässt mich den Anblick ihrer abgemagerten Handgelenke und eingefallenen Wangen vergessen. Nur für ihre wunderschönen grünen Augen und roten Mund, die den Anschein erwecken, es mit einer Prinzessin und nicht einer armen Handwerkerstocher zu tun zu haben, habe ich Augen.
So, als hätten wir es zuvor abgesprochen, öffnet sie die Tür um einen Spalt, durch welchen ich im Vorbeilaufen den Laib Brot werfen kann.
Glückliches, fröhliches, dankbares Lächeln begleitet mich meinen gesamten weiteren Weg durch die Stadt.

ZufallsmenüWo Geschichten leben. Entdecke jetzt