Kapitel 6 - Das Training

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»Du musst den Mittelpunkt der Scheibe treffen!«

Saris Hufspitze deutete auf den roten Punkt, der auf einen Strohballen gemalt war, welcher seit kurzem im Hofgarten stand. Man hatte ihn erst vor wenigen Tagen hierhergeschafft, weil sich in dieser Ecke laut seinem Vater zwei der Hofhunde zerfleischt hatten und die Blutspuren sich nicht von den Pflastersteinen hatten abwaschen lassen.

Deshalb hatte man den Ballen hier abgestellt, um die unschönen Flecken zu verdecken, bis Mutter Natur die letzten Spuren von sich aus zersetzt hatte.

Aino war das ganz recht. So hatte er immerhin genügend Zeit, um Bogenschießen zu üben. Mit konzentriertem Blick legte er einen Pfeil auf die Bogenkonstruktion, die zwischen zwei Holzpfählen eingespannt war und sich sowohl zur Seite, als auch nach oben oder unten neigen ließ.

Mit den Zähnen packte er den Pfeil mit der Sehne, kniff seine Augen zusammen, zielte und ließ dann mit einem Ruck los.

Der Pfeil flog in hohem Bogen über die Zielscheibe hinweg und blieb inmitten des Auges einer Holzstatue stecken, die unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort gestanden hatte.

»Das war so geplant«, schnaubte er mit geheucheltem Stolz. »Ich wollte die Zielscheibe gar nicht treffen. Das wäre viel zu einfach!«

»Oh, mein Prinz. Euer Talent ist ohnegleichen!«, kicherte die weiße Stute scherzend. Aino hob eine Augenbraue an, bevor er zur Seite trat und Sari herausfordernd anwieherte.

»Du kannst es sicherlich besser!«, schnaubte er. Sari schnippte sich elegant eine Strähne von der Stirn, trat näher an die Bogenvorrichtung heran und legte einen Pfeil auf.

Nachdem sie von ihrem Gespräch mit Eirik zurückgekehrt war, hatte sie völlig erschöpft und verzweifelt ausgesehen. Beinahe, als ob er sie dafür bestraft hatte, dass sie Aino in Schutz genommen hatte. Aber Aino glaubte nicht, dass es das gewesen war, denn auch Sir Brander hatte so merkwürdig niedergeschlagen gewirkt. Und er hatte nichts von alldem mitbekommen, was in Ainos Gemach geschehen war.

Doch die Ablenkung beim Bogenschießen hatte die relativ junge Stute von ihren Sorgen abgelenkt. Nun war sie ausgelassen und fröhlich, als ob nie etwas geschehen wäre.

»Ich werde deinen Pfeil treffen!«, murmelte Sari konzentriert. Aino verfolgte jede ihrer Bewegungen mit großem Interesse. Akribisch und sorgfältig richtete sie den Bogen aus und zog dann die Sehne lang. Ruckartig schoss der Pfeil in die Höhe davon, als die Sehne ihr offenbar versehentlich durch die Zähne rutschte.

Der Pfeil flog durch den Himmel, verschwand im Blau des dämmernden Abendhimmels und näherte sich dann mit großer Geschwindigkeit dem Boden näherte.

»Ha! Netter Versuch!«, lachte Aino hämisch, als Sari ihn mit einem energischen ›Schhh‹ zum Schweigen brachte. Und da sah er es. Saris Pfeil hatte den Schaft seines Pfeils von oben durchbohrt und ihn aus der Statue herausgerissen. Beide Pfeile lagen nun am Boden – im rechten Winkel der eine vom anderen durchbohrt.

»Boah! Wie hast du das gemacht?«

Aino staunte nicht schlecht. Er hätte nie im Leben erwartet, dass Sari so gut schießen konnte.

»Das war mein liebstes Spiel mit meinem Bruder, als wir noch klein waren. Er hat mir das alles beigebracht.«

Der junge Prinz reckte den Kopf und suchte den Eingang zum Garten nach Sir Brander ab. Der rotbraune Hengst stand mit seinem Knappen Leon dort und lächelte ihm aufmunternd zu.

»Es braucht viel Übung, aber eines Tages wirst du das auch können.«

»Richtig, deshalb wird sein Training auch heute beginnen!«

BRÜDER - Die Chroniken von SkjellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt