Kapitel 5 - Der einzige Sohn

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Seit sein Bruder davongelaufen war, hatte der junge Fuchshengst kein Auge mehr zugetan. Rund um die Uhr war er von Dienern des Königshauses umgeben, die ihm gut zusprachen und ihn zu trösten versuchten, aber die Fragen in seinem Kopf, weil er nicht wusste, was mit seinem Bruder geschehen war und warum man seine Mutter gefangen genommen hatte, ließen ihm einfach keine Ruhe.

Seit dem Vorfall hatte er sein Gemach nicht mehr verlassen, hatte weder gegessen, noch getrunken und verzweifelt versucht mit einem Blick aus dem winzigen Burgfenster vielleicht nicht doch noch seinen Bruder draußen zu entdecken. Doch alles war vergeblich gewesen. 

Er würde Frodur niemals wiedersehen. Trotzdem hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Ritter seines Hauses nicht doch jede Minute mit seinem Bruder in die Mauern der Alvarrsburg zurückkehren würden.

Als die Tür zu seinem Gemach sich hinter ihm öffnete, sprang der kleine ängstlich herum. Eine schneeweiße Stute mit zierlichem, feinen Kopf und großen, freundlichen Augen trat herein. Von ihrem Aussehen wirkte sie, als ob sie aus dem Königreich Keldor stammen könnte - zumindest zu einem Teil ihrer Familie. Dort lebten, laut seinem Vater, Pferde, deren lange, dünne Beine sie zu Höchstgeschwindigkeit beflügelten. Auch die Fremde war äußerst drahtig, schmal und ihr Fell schimmerte seidig im Licht der hoch stehenden Mittgassonne. Sie lächelte, doch der kleine hatte sie hier noch nie zuvor gesehen, obwohl sie ihm dennoch auf merkwürdige Weise bekannt vorkam.

"Hallo", schnaubte sie sanft. "Du fragst dich gewiss, wer ich bin, nicht wahr?"

Der junge Hengst nickte schüchtern. Er wollte sich seine Verwirrung nicht anmerken lassen. Das wäre sicherlich unhöflich gewesen. Schließlich schien sie sehr nett zu sein.

"Sie ist deine leibliche Mutter!", sein Vater trat nun ebenfalls in den Raum ein. Der große Schimmel blickte streng auf seinen Sohn herab, der nun überhaupt nicht mehr verstand, was hier vor sich ging. Dieses Pferd vor ihm konnte nicht seine Mutter sein. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen! Nicht einmal ihr Geruch kam ihr bekannt vor. Wie konnte es sein, dass sie verwandt waren?

Stumm schüttelte der Prinz seinen Kopf, zuckte jedoch zusammen, als sein Vater zornig mit dem Huf aufstampfte.

"Hör zu! Von heute an wirst du Aino heißen, damit jeder weiß, dass du und nur du mein einziger, leiblicher Sohn bist! Diese Verräterin war nicht deine Mutter, sondern lediglich deine Amme. Ich ließ sie für euch sorgen, weil ich nicht wollte, dass das Volk herausfindet, dass Mildri Van Alviss nicht die Mutter des Kronprinzen ist, sondern meine Cousine, Sari Van Alvarr."

Sari neigte respektvoll den Kopf vor Aino, als der mit weit aufgerissenen Augen zwischen den beiden Pferden in seinem Raum hin und her blickte. Er hatte sich noch nie zuvor so hilflos gefühlt.

"Nein! Das ist nicht wahr!", rief er entsetzt. "Vater, das ist nicht wahr! Du lügst! Frodur ist mein Bruder und Mildri ist meine Mutter!"

"Halt den Mund! Sari wird sich gut um dich kümmern. Du wirst doch mit Sicherheit verstehen, dass ich nicht möchte, dass du denkst, dass du dein Blut mit dieser Verräterin teilst, die versucht hat, dich aus dem Königshaus zu entwenden. Weiß der Herr, was sie draußen im Wald mit euch beiden angestellt hätte."

"Und was ist mit meinem Bruder?"

"Welchem Bruder?", schnaubte Eirik mit steinerner Miene. "Hast du vergessen, dass du mein  einziger Sohn bist, Aino?"

Aino brach augenblicklich in Tränen aus. Die ganze Welt um ihn herum war soeben in sich zusammengebrochen. Er wollte einfach nur noch fort. Weg von dieser fremden Stute und das warme Fell von Mildri an seinem spüren. Den herrlichen, warmen Geruch einatmen, den sie verströmte und sich an ihre Brust pressen, um ihrem vertrauten Herzschlag zu lauschen.

BRÜDER - Die Chroniken von SkjellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt