Von Scheren und Schlüsseln

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"Hallo, Prinzessin..."

Wie gebannt starrte Edna auf die sich hinter ihr spiegelnde Gestalt.
Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Sie war so mit ihrem Hunger und ihrer Tarnung beschäftigt gewesen, dass sie ihn vollkommen verdrängt hatte. Ihn, den Schlüsselmeister!
Dieser befand sich gerade einmal ein paar Schritte hinter ihr. Nach wie vor im Irrenkittel. Er hielt etwas in seiner Hand, aber Edna konnte es nicht genau erkennen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Edna Konrad sprachlos. Ob aus Furcht oder vor Überraschung sei dahin gestellt. Möglicherweise beides. Innerhalb von wenigen Sekunden schossen ihr hunderte von Fragen durch den Kopf:
Wie hatte er überlebt? Warum war er niemandem aufgefallen? Wie hatte er sie gefunden? Was würde er mit ihr anstellen?
Bevor sie auch nur eine von ihnen stellen konnte, entfernte sich der Schlüsselmeister noch einen Schritt vom Spiegel, sodass Edna einen Blick auf den Gegenstand in seiner Hand werfen konnte. Der Schlüsselmeister war bewaffnet. Mit einer Schere. Einer ziemlich großen Schere.
Umso mehr verwunderte es Edna, dass er niemandes Aufsehen erregt hatte. Er schaute sie mit einer Mischung aus Belustigung und Erwartung an, während er langsam weiter sprach.
"Wie ich sehe, hast du nicht mit mir gerechnet. Ich kann es dir nicht übel nehmen. Auch ich hätte es an deiner Stelle für mehr als unwahrscheinlich gehalten. Und doch stehe ich hier"
Er machte eine kurze Pause, in der Edna sich umdrehte und ihn genau musterte. Er hatte sich nicht wesentlich verändert. Seine Haut hatte noch den selben ungesund grau-grünlichen Teint, vielleicht nur etwas fahler. Auf seinem Kittel war getrocknetes Blut. Vermutlich war er verletzt.
"Wenn du mir die Bemerkung gestattest, Prinzessin, vor deinem optischen Wandel hast du mir besser gefallen"
Er ließ seinen Blick an ihr herab gleiten. Schmunzelnd betrachtete er die von Harvey verursachte Ausbeulung ihres Hemdes.
"Immer noch in Begleitung?" Am Tonfall des Schlüsselmeisters erkannte Edna, dass dies eine rein rhetorische Frage war.
Sie hatte inzwischen ihre Sprache e wiedergefunden, brachte aber keine intelligentere Frage als: "Wie ist das bloß möglich?" zustande.
"Weißt du", antwortete der Schlüsselmeister leicht amüsiert, "wenn man sich nicht allzu blond anstellt, kann man sich nahezu unsichtbar durch die Welt bewegen"
Er sprach langsam und eindringlich. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung in der Anstalt. Doch jetzt betonte er jedes Wort, als befürchtete er, Edna könnte ihm nicht folgen. Das ließ sie wütend werden.
"Was willst du von mir?" Edna bemühte sich um eine feste Stimme, konnte ein leichtes Zittern jedoch nicht vermeiden. Sie versuchte, in die Augen des
Schlüsselmeisters zu sehen und nicht auf die mit Sicherheit todbringende Hieb- und Stichwaffe in seiner Hand.
"Nun, Prinzessin... Wir haben etwas zu erledigen. Du und ich. Sieh es als eine Art Mission"
Ednas Alarmglocken schrillten.
"Was für eine Mission?" Unbewusst wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Waschbecken stieß.
Würde er ihr tatsächlich etwas antun? Sie fragte sich, warum in der ganzen Zeit niemand das Bahnhofsklo betreten hatte. Wenn jemand hier drin wäre, würde der Schlüsselmeister es sicher nicht wagen, ihr zu nahe zu treten. Aber sie waren allein.
"Du musst zu Ende bringen, was du begonnen hast", sagte der Schlüsselmeister und warf ihr die Schere vor die Füße.
Edna zuckte erschrocken zusammen als das Geschoss vor ihr auf dem Boden landete. Ungläubig blickte sie auf die Schere. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich darauf ebenfalls Blut befand. Sie erschauderte. Ihr Verstand war unfähig zu arbeiten. Der Schlüsselmeister schien das erraten zu haben.
"Deine Idee war nicht schlecht, aber die Ausführung war nicht ganz perfekt. Außer ein paar Prellungen bin ich fast unverletzt aus diesem gottlosen Gotteshaus entkommen. Dadurch fanden zwei weitere Menschen ein schnelleres Ende als ihnen vermutlich lieb gewesen wäre..." Sein Ton war nachdenklich. Edna kapierte schlagartig, was der Schlüsselmeister meinte. Das Blut an seinem Kittel und der Schere war nicht sein eigenes!
Er hatte sie verfolgt und dabei noch zwei Menschen umgebracht. Und jetzt verlangte er von ihr, ihn zu töten. Sie musste an die Frau an der Tankstellenkasse denken. War sie eins seiner Opfer gewesen? Aber wer war dann das andere? Vielleicht der freundliche Straßenmusiker? Sie wollte nicht darüber nachdenken!
Tränen stiegen ihr in die Augen.
Der Schlüsselmeister fing leise an zu lachen.
"Ich habe es dir doch erklärt, Prinzessin. Ich habe dich gewarnt. Die beiden sind die Früchte deiner Fahrlässigkeit. Das ist ebenso dein Verdienst wie meiner! Ich habe dich gewarnt, Prinzessin, ich habe es dir von Anfang an gesagt. Ich gehöre nicht in die Freiheit!"

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt