Der Umzug

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Der Morgen war bereits angebrochen. Die Sonne schien, die Vögel sangen und auf dem Anstaltsgelände spielte sich eine mehr als ungewohnte Szene ab.
Alle Angestellten hatten sich vor dem Hauptportal versammelt. Aber nicht etwa, um ihren Chef willkommen zu heißen. Sie hatten sich zusammen gefunden, um zu
beobachten wie der einst so furchteinflößende Anstaltsleiter nun als gebrochener Mann zurückkehrte.
Und das war er zweifellos. In sich zusammen gesunken, die Hände auf dem Schoß gefalten, wurde er von seinem Angestellten über das Gelände geschoben.
Nach dem Massenausbruch vor zwei Tagen hatte er dem gesamten Personal die Löhne gekürzt. Daher war es nicht verwunderlich, dass die meisten Bediensteten Dr. Marcels "Unfall" als ausgleichende Gerechtigkeit betrachteten.
"Ihr Büro haben wir ins Erdgeschoss verlegt. Es befindet sich nun neben der Kantine. Das Lager haben wir in Ihr ehemaliges Büro verlegt"
Der vom Schicksal Gebeutelte vernahm Stiesels Stimme hinter sich.
Toll, dachte er sich. Ein Lagerraum als Büro eines Anstaltsleiters! Er war sich nicht einmal sicher, ob dieser Raum überhaupt über ein Fenster verfügte. Er hatte den Lagerraum noch nie betreten. Und in Anbetracht seines momentanen gesundheitlichen Zustandes würde er auch so schnell nichts mehr betreten können... jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne.
Der Rollstuhl wurde über eine provisorische Rampe ins Foyer geschoben.
"Willkommen zu Hause...", flüsterte Dr. Marcel, als Stiesel das Gefährt zum Stehen gebracht hatte.
"Haben Sie etwas gesagt?" Stiesel wuselte aufgeregt um den Doktor herum. Nachdem er Edna hatte entkommen lassen, wurde er von ihm ebenso lautstark wie unhöflich auf seinen fatalen Fehler hingewiesen. Nun war der Sohn eines berühmten Herstellers für Minigolfschläger emsig darum bemüht, die Gunst seines Vorgesetzten wieder zurück zu erlangen.
"Aber nicht doch", knurrte Dr. Marcel. Allein die Vorstellung, eine Konversation mit diesem Schleimer zu führen, war ihm zuwider.
"...wenn Sie jetzt die Freundlichkeit besitzen würden, mich allein zu lassen...", fügte er hinzu. Er brauchte dringend Ruhe, um seine Gedanken zu ordnen.
"Natürlich, natürlich. Rufen Sie mich, wenn Sie etwas benötigen"
Damit verschwand Stiesel die Treppe hinauf.

*******

Edna lief in der Zwischenzeit immer noch dem Schlüsselmeister hinterher.
Sie hatten erst die halbe Stadt durchquert, denn der Schlüsselmeister blieb an verschiedenen Stellen und vor verschiedenen Gebäuden stehen und erklärte ihr, wozu diese dienten und wie man sich dort verhielt. Er hatte ihr Fragen gestellt, ihre Antworten berichtigt und einmal sogar ein lobendes Wort verloren, als sie durch Zufall richtig geraten hatte.
So hatte Edna innerhalb von wenigen Stunden gerlernt, was andere in ihrem Alter sich über die Jahre hin angeeignet hatten, während sie in der Anstalt fest saß.
Jedenfalls hatte sie jetzt eine grobe Vorstellung von allem.
Sie kannte nun die örtliche Postfiliale, das Krankenhaus und die Polizei, von der sie sich wohl besser fernhalten sollte.
Ihr wurde erklärt, wie Arztbesuche abliefen und wie das mit den Versicherungen funktionierte. Edna hörte aufmerksam zu. Sie gab sich Mühe, nicht mit ihren Gedanken abzudriften.
Etwa gegen Mittag führte der Schlüsselmeister sie zu einem Mehrfamilienhaus. Der Altbau befand sich nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und machte einen recht wohnlichen Eindruck.
"Da wären wir", sagte er und deutete auf das Haus.
Edna war einen Augenblick lang verwirrt, doch ihr Begleiter klärte sie rasch auf.
"Nur keine falsche Scheu, Prinzessin. Tritt ein in deine neue Bleibe"
Er hielt ihr die Tür auf. Sie trat ein und sah sich im Treppenhaus um. Alles sah sehr gepflegt aus.
Der Schlüsselmeister ging an ihr vorbei und schloss die erste Wohnungstür auf.
"Wenn ich bitten darf" Er machte eine einladende Geste ins Innere der Wohnung.
Sie war hell und freundlich eingerichtet, jedoch noch nicht ganz fertig. Vereinzelt standen Umzugskartons herum, in denen sich allerlei Zeug befand. Wer auch immer hier wohnte (oder gewohnt hatte), war offenbar erst eingezogen. Anhand von einigen Gegenständen konnte Edna erkennen, dass es sich um eine Frau handeln musste. In einem Karton stapelten sich Deko- Schalen und Duftkerzen, in einen anderen Bücher und Pferde-Magazine.
"Wer wohnt hier?", fragte sie den Schlüsselmeister.
"Du", antwortete dieser während er sich ihr langsam näherte.
Edna wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er blieb unmittelbar vor ihr stehen und streckte ihr seine Hand entgegen. Darin befand sich ein Briefumschlag. Sie öffnete ihn und holte einen Personalausweis heraus.
Er gehörte einer Frau, die Edna nicht unähnlich sah.
Auch sie war blass und hatte dunkle Augen. Der größte sofort erkennbare Unterschied war die Frisur. Die Haare der Frau waren knallrot gefärbt und reichten ihr nicht mal bis auf die Schultern.
Edna las ihren Namen. Nowak. Isabelle Nowak. Zwanzig Jahre. Vermutlich die ehemalige Bewohnerin.
In diesem Moment verstand Edna. Wenn sie ein halbwegs normales Leben führen wollte, brauchte sie eine andere Identität! Was wäre da einfacher als einfach die eines anderen zu übernehmen? Doch gleichzeitig machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit.
"Was ist mit ihr passiert?", fragte sie vorsichtig. Wohl wissend, was sie als Antwort erhalten würde.
"Ein tragisches Unglück. Aber sei unbesorgt. Die Gute war erst seit ein paar Tagen in der Stadt. Niemand wird den Unterschied bemerken. Vorausgesetzt, du überdenkst die Wahl deiner Perücke nochmal..."
Mit diesen Worten griff er in einen der Kartons und zog eine rote Kurzhaar-Perücke hervor. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
Edna wurde übel. Sie wandte sich vom Schlüsselmeister ab und blickte nochmals in das Gesicht der Frau, die ihretwegen sterben musste und deren Platz sie nun einnehmen sollte.

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt