Unangenehme Konfrontation

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Sie rannte ohne zu wissen, wohin sie rannte. Harvey dabei immer fest an sich gedrückt.
Sie lief durch unbekannte Straßen, an fremdem Häusern vorbei.
Irgendwann gelangte sie zu einem Waldstück. Endlich gönnte sie sich und ihrem Begleiter eine Pause.
"Wo sollen wir denn jetzt hin, Harvey?"
"Erstmal so weit wie möglich weg von diesem Irren! Ich hab irgendwie das Gefühl, dass er uns verfolgt."
"Unsinn, Harv! Er hat doch gar nicht mitgekriegt, dass wir getürmt sind."
Jedenfalls hoffte Edna, dass es so war. Den Schlüsselmeister durfte man nicht unterschätzen. Er war zu Dingen fähig, die Ednas Horizont bei weitem überschritten. Wieder hatte sie die Bilder vor Augen. Diese schrecklichen Bilder. Sie wünschte sich, niemals diese Schachtel geöffnet zu haben. Sie wünschte sich, dass sie niemals erfahren hätte, welches entsetzliche Geheimnisse der Schlüsselmeister verbarg. Edna konnte nicht mehr klar denken. Tausend Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, doch keinen konnte sie richtig greifen.
Sie setzte sich ins feuchte Gras und lehnte den Rücken an einen Baumstamm.
Sie wusste jetzt, seit wann er in der Anstalt war und warum. Ihr war jetzt völlig klar, warum er in einer Sicherheitszelle gesessen hatte. Es ergab nun alles einem Sinn.
Er sagte ihr, er gehörte nicht in die Freiheit. Er hatte Recht!
Nur eine Sache wollte Edna einfach nicht begreifen. Warum um alles in der Welt half er ihr? Zur Anstalt hätte er doch jederzeit allein zurückkehren können.
Wollte er ihr womöglich auch etwas antun? Gehörte das alles zu seinem perversen Plan? Hatte dieser Mann überhaupt einen Plan?
Edna verfluchte sich für all diese Momente, in denen sie geglaubt hatte, der Schlüsselmeister würde sie vielleicht sogar mögen. Die Übelkeit unterdrückend holte sie tief Luft.
"Lass uns weiter gehen, Harvey", murmelte die Flüchtige, als plötzlich entfernte Geräusche an ihr Ohr drangen.

"Sie ist weg! Wir haben ihre Spur verloren! Stiesel, Sie verfluchter Idiot!"
"Mit dem Rollstuhl durchs Unterholz ist das nicht so einfach. Man bleibt andauernd irgendwo hängen."
Edna schreckte auf.
"Oh nein, das sind Stiesel und Dr. Marcel!"
"Schnell weg, sie dürfen uns nicht erwischen!", rief der kleine Hase aufgeregt.
Und wieder rannte sie. Die Flucht führte sie quer durchs Gestrüpp.
Der Doktor war doch verrückt. Sich im Rollstuhl mitten durch den Wald schieben zu lassen.
Aber so gewannen sie Zeit. Kostbare Zeit.
Sie waren eine gefühlte Ewigkeit unterwegs.
Die Sonne war bereits aufgegangen.
Langsam wurde der Wald lichter und sie erkannte, wo sie waren.
"Da ist eine Kirche, da drin können wir uns verstecken!", schlug Ednas Freund vor.
Aber es war nicht irgendeine Kirche. Sie standen vor eben diesem Gotteshaus, in dem sie schon einmal dem Schlüsselmeister entkommen waren.
"Wie zum Teufel ist dass möglich?" Edna verstand die Welt nicht mehr. Waren sie wirklich so weit gelaufen?
"Ist doch egal, los rein da!"
Harvey hatte Recht. Sie mussten sich verstecken.

In der Kirche war es totenstill. Nichts ließ mehr erahnen, was sich hier vor einigen Wochen abgespielt hatte. Ein beinahe friedlicher Anblick bot sich den beiden Ausreißern.
Erschöpft ließ sich die junge Frau auf eine der Holzbänke sinken. Sie hatte entsetzlichen Durst, doch ihre Wasserflasche war längst leer.
Aber bevor sie sich lange darüber ärgern konnte, wurde sie von der Müdigkeit übermannt.

Edna wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als die Stimme ihres kleinen blauen Kumpels sie aus ihrem traumlosen Schlummer riss.
"Das ist jemand vor der Kirche. Ich höre sie reden. Edna, ich fürchte, es ist Dr. Marcel!"
Verdammt! Hatte er sie tatsächlich gefunden? Dann musste sie wirklich lange geschlafen haben. So ein Mist! Was sollten sie jetzt tun?
So leise wie sie konnte, schlich Edna zur Tür.
"Erzählen Sie keinen Müll, sie muss da drin sein!"
Also doch! Sie saßen in der Falle. Verzweifelt sah Edna sich nach etwas um, das die im Notfall als Waffe benutzen konnte. Aber hier war nichts. Und es gab nur diesen einen Ausgang. Sie waren verloren.
"Hier, nimm den, Prinzessin. Sonst bekommen wir bald ungebetenen Besuch."
Ihr wurde ein großer Schlüssel vor die Nase gehalten und Edna blickte in ein ungesund blasses Gesicht, das sie nur zu gut kannte.

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt