Es geht voran

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Edna blickte paralysiert in die ungesund glänzenden Augen direkt vor ihr.
Deren Eigentümer wusste das auszunutzen und riss mit einem Zug das Handtuch nach unten.
Edna wollte aufschreien, aber sie war wie erstarrt.
Der Schlüsselmeister beugte sich noch ein Stück vor, so dass seine Lippen Ednas Ohr beinahe berührten.
"Besser, du ziehst dir etwas vernünftiges an, Prinzessin. Ich habe keine Lust, mich um ein krankes, kleines Mädchen zu kümmern."
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand er ins Wohnzimmer.
Mehr als verdutzt hob Edna das Handtuch vom Boden auf.
Auch wenn sie fast ihr ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht hatte, war ihr nicht entgangen, wie sich ihr Körper verändert hatte. Es war ihr bisher einfach nur egal gewesen. Doch ihr war durchaus bewusst, dass sie kein Kind mehr war. Sie war eine Frau. Und es ärgerte sie, vom Schlüsselmeister als "kleines Mädchen" bezeichnet zu werden.
War das alles, was er in ihr sah?
Und warum störte sie das überhaupt?
Schon wieder völlig verwirrt zog sie sich einen bequemen Pyjama an und gesellte sich zu ihrem Mitbewohner. Der war gerade dabei, eine kleine Schachtel unter dem Sofa verschwinden zu lassen.
"Was machst du da?", wollte Edna wissen.
"Die Fernbedienung ist mir runter gefallen. Ich habe sie aufgehoben."
Er lächelte sie an. Dieses Lächeln hatte sie in den vergangen Tagen schon oft aus der Bahn geworfen.
Doch Edna blieb stutzig. Ein Blick auf ihren kleinen Kumpel, der auf einem Sofakissen thronte, bestätigte ihren Verdacht. Der Schlüsselmeister wollte offensichtlich etwas vor ihr verstecken.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Heute Nacht würde sie herausfinden, was sein Geheimnis war.

*******

Dr. Marcel war sich nun sicher. Der Schlüsselmeister war der Ursprung allen Übels.
Er hatte Marlene - seine Marlene - ermordet und zerstückelt.
Er war der Grund, dass Mattis Konrad sein Leben nicht mehr in den Griff bekam, dass Edna völlig quer schlug und dass sein geliebter Alfred sterben musste.
Schlussendlich auch, dass er jetzt im Rollstuhl saß, verbittert und nach Rache sinnend.

Er würde ihn finden. Er würde ihn zerquetschen. Aber vorher würde er ihn ein paar Tage lang foltern. Ihn so leiden lassen, wie er gelitten hatte.
Dr. Marcel konnte den ermittelnden Kommissar davon überzeugen, ihn an den Ergebnissen der Ermittlungen teilhaben zu lassen. Schließlich war er immer noch ein sehr einflussreicher Mann.

Eine Weile war seit dem vergangen. Horatio Marcel fing bereits an, unruhig zu werden, als endlich der Anruf kam.
"Morgen, Doktor", gähnte Kommissar Baldur. "Es gibt neue Erkenntnisse im Fall Konrad, die Sie bestimmt interessant finden."
"Jaja, labern Sie nicht drumherum! Was für Erkenntnisse?"
Der Doktor war aufgeregt. Neue Informationen bedeuteten Fortschritt.
"Die Kollegen einer benachbarten Ortschaft haben uns darüber informiert, dass gestern Abend zwei junge Herren Anzeige erstattet haben. Sie wurden von jemandem angegriffen, der auffallend auf die Beschreibung Ihres entflohenen Irren passt. Er hat beide mit einem Baseballschläger bedroht, als sie einer jungen Rothaarigen ihren blauen Stoffhasen abnehmen wollten. Was auch immer das genau bedeuten mag."
Dr. Marcel konnte sein Glück kaum fassen. In seiner Euphorie stellte er nicht infrage, dass es sich um ein Mädchen mit roten Haaren handeln sollte.
Es musste Edna sein! Sie war also tatsächlich in Begleitung des Schlüsselmeisters. Die Frage war nur, ob sie zusammen arbeiteten, oder ob er sie in seiner Gewalt hatte.
Für den Doktor spielte das in diesem Moment keine Rolle. Er war seinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.

*******

Mitten in der Nacht schlich Edna aus ihrem Schlafzimmer. Harvey unter ihren Arm geklemmt, gab sie sich große Mühe, sich so lautlos wie möglich zu bewegen. Nur nicht den im Wohnzimmer schlafenden Schlüsselmeister wecken. Wobei... eigentlich war sich Edna nicht sicher, ob dieser undurchsichtige Mann überhaupt schlief...
Jedoch wunderte Edna sich, als sie den Raum leer vorfand. Vermutlich war er im Bad, also hatten sie den perfekten Moment abgepasst. Nun aber Beeilung!
Am Sofa angekommen ging Edna auf die Knie.
"Harvey, du passt auf und rufst mich, wenn er kommt"
"Null Problemo!"
Der kleine Hase war in seinem Element.
"Hast du schon was gefunden?", fragte ihr blauer Freund ungeduldig.
"Wart's ab. Ich konnte ja noch gar nicht richtig nachsehen."
Sie tastete den schmalen Spalt zwischen Sofa und Bodenbelag ab, bis ihre Finger einen eckigen Gegenstand berührten. Das Kästchen! Vorsichtig zog sie es hervor.
"Bingo! Schnell, Harvey. Wir verziehen uns lieber."
"Yipppiehh!", schrie das Stofftier und Edna war selten so erleichtert darüber, dass nur sie ihn hören konnte.

Zurück in ihrem Zimmer machten die beiden Freunde es sich auf dem Bett gemütlich.
Sie begutachteten die kleine Schachtel. Viel konnte da nicht drin sein. Behutsam nahm Edna den Deckel der Schachtel ab. Nicht ahnend, dass das, was sie darin fand, ihr ganzes Leben noch einmal komplett durcheinander bringen würde.

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt