Edna sah sich um, ob jemand in der Nachbarschaft durch das klirrende Geräusch des zerplitternden Fensters geweckt worden war. Dann stieg sie vorsichtig in das Haus ein. Kein einziges Möbelstück war mehr vorhanden. Die Räume wirkten kahl und abweisend, trotzdem fühlte sie sich wohl. Sie tänzelte durch die Zimmer und dachte sich Geschichten über die ehemaligen Bewohner aus.
Wer hier wohl gelebt hatte? Vielleicht eine kleine Familie oder ein altes Ehepaar? Hatten sie Tiere gehabt? Warum waren sie ausgezogen? Wie war ihr Leben hier gewesen?
Aber schließlich wurde sie irgendwann müde. Sie suchte sich eine gemütlich aussehende Ecke in einem der oberen Zimmer aus und rollte sich dort mit Harvey an sich gekuschelt ein.Als sie erwachte, schien bereits die Sonne. Da sie keine Uhr dabei hatten, schätze Edna, dass es wohl kurz vor Mittag sein musste. Neben ihr lag Harvey, welcher im Schlaf vor sich hin murmelte.
"Kombiniere Poloschläger mit Hulgor...", säuselte er verträumt. Ein Lächeln schob sich auf Ednas Gesicht.
Sie stand auf und warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Auf der Straße spielten ein paar Kinder und eine ältere Frau führte einen kleinen Hund spazieren. Keine Anzeichen von irgendwelchen Polizisten. Gut, das bedeutete entweder, dass die Suche nach ihr aufgegeben wurde, oder dass sie irgendwo nahe der Anstalt oder dem Haus ihres Vaters nach ihr suchten. Sie hielt es für
unwahrscheinlich, dass die Polizei die Suche auf andere Gebiete ausweiten würden. Schließlich wusste niemand außer Dr. Marcel, ihr selbst und natürlich Harvey von den tatsächlichen Umständen von Alfreds Tod.
Edna setzte sich neben ihren schlafenden Freund und dachte nach. Hätten sie damals - also gestern - doch bloß Bobo mitgenommen. Mit Bobo the Brain hätten sie viel einfacher ihre nächsten Schritte planen können... oder zumindest ein paar Kinder erschrecken.
Langsam breitete sich das Hungergefühl in ihr aus.
Wenn sie bald aufbrachen, würden sie es noch bis in den nächsten Ort schaffen bevor es dunkel wurde. Sie erinnerte sich, dass einige Kilometer entfernt eine Stadt lag. Dort konnten sie sich freier bewegen und versuchen, sich etwas zu essen zu besorgen ohne kriminell zu werden... erneut.
Vorsichtig hob Edna ihr Häschen auf und steckte es in die Innentasche des Holzfällerhemdes. Harvey ließ nur ein leises Grunzen vernehmen. Behutsam kletterte sie durch das Fenster im Erdgeschoss wieder hinaus. Sie atmete tief durch und machte sich auf einen langen Fußmarsch gefasst.Es dämmerte bereits als Edna mit dem mittlerweile erwachten Harvey den Ortseingang passierte. Sie schaute bewusst nicht auf das Ortsschild. Sie wollte gar nicht wissen, wie die Stadt hieß, würde sich hier ohnehin nicht lange aufhalten.
Sich nach den Schildern orientietend, gelangte sie gehen 19 Uhr zum Bahnhof. Die Zeit kannte sie inzwischen, da sie unterwegs an einem Marktplatz mit einer Kirchturmuhr vorbei gekommen war.
Das Bahnhofsgebäude war voller Menschen. Anreisende, Abreisende, sogar ein paar Obdachlose konnte Edna entdecken. Die Ladenstraße war gesäumt von zahlreichen Geschäften und Imbissmöglichkeiten.
"Ohne Geld kommst du an nichts Essbares", stellte Harvey fest. Damit hatte er recht.
Plötzlich wurde die Flüchtige auf etwas aufmerksam.
"Sieh mal, Harv, da könnte ich doch Geld verdienen"
Edna deutete auf einen jungen Mann, der am Rand der vorbei strömenden Menschenmassen saß und auf seiner Gitarre spielte.
"Oh ja!", rief Harvey vergügt. "Tanze! Tanze!"
Und Edna tanzte. Sie stellte sich einfach neben den Straßenmusiker und vollführte eine improvisierte Show- Einlage. Dieser lächelte ihr dankbar zu. Offenbar hatte er
ohne ihr Zutun keinen nennenswerten Erfolg verzeichnen können und erhoffte sich durch Edna etwas mehr.
Die Menschen jedenfalls schienen begeistert. Einige waren stehen geblieben und Münzgeld prasselte in den Gitarrenkoffer. Der Musiker beendete sein Stück und
Edna legte einen gekonnten Abschluss hin. Die Menge applaudierte und löste sich nach und nach langsam auf.
"Ich danke dir, junges Fräulein", sagte der Mann freundlich. "So viel hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr verdient"
Ein Blick in den Koffer verriet Edna, dass ihre Wahrnehmung sie nicht getäuscht hatte. Sie waren tatsächlich super angekommen.
"Ich bitte dich, den Gewinn mit mir zu teilen", bot der Musiker ihr an. Darauf hatte Edna gewartet. Dankend zählte sie die Einnahmen und ging dann, mit rund zwanzig Euro mehr in der Tasche, winkend davon.
Eine halbe Stunde später saß sie auf einer Bank, neben sich die leere Tüte einer hier namentlich nicht genannten
FastFood-Kette und verputzte die letzten Reste ihres fürstlichen Mahls.
Gerade als sie ihren Weg fortsetzen wollte, erregte ein Flugbatt ihre Aufmerksamkeit.
"Oje, Edna...", kam es von Harvey. Und es war tatsächlich ziemlich...oje.
Es handelte sich dabei um ein Foto von Edna. Zwar noch immer im weißen Kittel, trotzdem deutlich erkennbar.
Edna fand das Motiv sehr gelungen, aber der Text machte ihr Sorgen.DRINGEND GESUCHT:
EDNA KONRAD
ENTLAUFEN AUS DER ANSTALT VON DR. H. MARCEL
EVTL. GEFÄHRLICH"Oje...", wiederholte Edna. Jetzt mussten sie sich wirklich etwas einfallen lassen...
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I Shouldn't Be Free...
FanficEdna stand am Fuß der Treppe und blickte auf die seltsam verdrehten Gliedmaßen von Dr. Marcel herab. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, während ihr die letzten Worte des Schlüsselmeisters durch den Kopf schossen... "Ich gehöre nicht in die F...