Übernachtungsgast

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Während der gemeinsamen Mahlzeit sprach niemand der beiden ein Wort.
Wenig später saßen sie im Wohnzimmer und starrten schweigend auf den Fernseher. Zur Zeit lief eine Dokumentation, in der Wissenschaftler ein mögliches
Weltuntergangsszenario simulierten.
Die Bilder wechselten, ohne dass Edna sie richtig wahrnahm. Sie hatte sich in die äußerste Ecke der Couch verzogen. Harvey saß noch immer dort, wo sie ihn abgesetzt hatte.
Es war ihr unangenehm mit dem Mann auf einem Sofa zu sitzen, den sie vor ein paar Tagen noch umbringen wollte.
Doch ebenso groß wie ihr Unbehagen war auch ihre Neugierde. Irgendwann brach sie das Schweigen.
"Wie heißt du?", brachte sie etwas unbeholfen hervor.
Der Schlüsselmeister ließ sich Zeit, bevor er antwortete.
"Namen sind Schall und Rauch, Prinzessin... Der Name, der mir am Tag meiner Geburt gegeben wurde, ist schon vor langer Zeit in Vergessenheit geraten"
Während er sprach, vermied er es, seinen Blick vom Fernseher abzuwenden. Das hielt Edna jedoch nicht davon ab, weitere Fragen zu stellen. Nichts konnte Edna aufhalten, wenn sie erst einmal richtig in Fahrt gekommen war.
"Soll das heißen, du hast deinen eigenen Namen vergessen? Geht das denn überhaupt?"
"Hast du dich denn an deinen Namen erinnert, als du in deiner Zelle aufgewacht bist?"
"Hmm..." Sie musste ihm Recht geben. Ohne Harvey wüsste sie wahrscheinlich heute noch nicht, wer sie war.
"Was ist mit deiner Haut passiert?", fragte sie weiter.
Der Schlüsselmeister hob seine Hand und drehte sie, als ob er sie erst genauer betrachten müsste.
"Ich schätze, das fehlende Sonnenlicht ist mir nicht gut bekommen. Vermutlich habe ich es zu lange nicht zu Gesicht gekriegt."
"Oh... Wie lange warst du denn schon eingesperrt?"
Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, begann Edna Mitgefühl für ihren Leidensgenossen zu entwickeln.
"Mal überlegen... Ich war schon dort, als sie dich einlieferten... Und als ich dorthin kam, war ich bereits älter, als du es jetzt bist..."
Edna war noch nie gut in Mathe gewesen, aber wenn ihre Rechnung stimmte, müsste er inzwischen jenseits der dreißig sein. Diese Überlegung brachte sie schon wieder zu ihrer nächsten Frage.
"Was hast du denn vorher so gemacht? Also, bevor du in die Anstalt kamst?"
Erst jetzt drehte er den Kopf und sah sie an.
"Was zählt schon das Leben vor der Anstalt, wenn du zu den wenigen Auserwählten gehörst, die ein Leben nach der Anstalt haben?"
Dann wandte er sich erneut dem Fernseher zu. Es bestand kein Zweifel, dass das Gespräch für ihn an dieser Stelle beendet war.
Ein wenig frustriert widmete sich auch Edna wieder den Wissenschaftlern.

Es wurde Abend und Edna fragte sich allmählich, wann sie ihren Teil der Abmahnung einlösen sollte.
Als sie den Schlüsselmeister jedoch darauf ansprach, lachte dieser nur.
"Was ist?!", fragte Edna leicht angesäuert. Er lachte weiter und Edna war sich sicher, dass er sie auslachte.
"Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich jetzt schon dir selbst überlasse? Nein, Prinzessin, ich möchte sicher gehen, dir hinter verschlossenen Anstaltstüren
nicht noch einmal zu begegnen, wenn du verstehst."
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Edna, wie der Schlüsselmeister sich ein Nachtlager auf der Couch zurecht machte.
Auf der einen Seite war es ihr unheimlich, dass ein gefährlicher Geisteskranker nur wenige Meter von ihr entfernt schlafen würde. Andererseits war sie froh, noch nicht alleine bleiben zu müssen.
"Nimm es nicht persönlich, aber deinen kleinen Freund nimmst lieber mit in dein Bett", riss sie die Stimme des
Schlüsselmeisters aus ihren Gedanken. Er hob Harvey auf und warf ihn ihr zu.
"Gute Nacht, Prinzessin."

Edna legte Harvey auf das leere Kissen neben sich.
"Was ist kleiner Kumpel? Redest du nicht mehr mit mir?"
"Da bin ich mir noch nicht ganz sicher!" Er klang tatsächlich etwas beleidigt.
"Ach, komm schon, Harv. Eigentlich läuft doch alles ganz gut..."
"Natürlich, Edna... Aber du darfst nicht vergessen, dass der Typ verrückt ist!"
"Nicht verrückter als wir."
"Dafür aber um einiges gefährlicher! Ich versteh nicht, warum du ihm vertraust!"
"Weil das unsere einzige Chance ist, Harvey! Oder fällt dir eine bessere Möglichkeit ein?"
"Ich mein ja nur...", murmelte Harvey schuldbewusst.
Edna drehte sich auf die andere Seite und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Sie träumte von Alfred. Er fuhr auf einem nagelneuen Fahrrad und zog damit Kreise um sie herum. Er lachte fröhlich und seine Rufe hallten in ihrem Kopf wider.
"Sieh nur, Edna, ich fahre, ich fahre, ich fahre!"
Edna kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Sie wollte wollte diese Bilder nicht sehen, seine nervtötende Stimme nicht hören...
"Edna! Edna! Edna!"
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war es um sie herum schwarz. Irritiert sah sie sich um. Die Szene von eben war verschwunden. War sie aufgewacht?
Nein, sie war nicht in ihrem Schlafzimmer, sie stand inmitten eines dunklen Nichts. Sie wollte zurück in die Richtung laufen, aus der sie glaubte, gekommen zu sein und stieß einen Schrei aus, als sie sich umdrehte und direkt in die bedrohlich funkelnden Augen des Schlüsselmeisters blickte.
"Sag gute Nacht, Prinzessin..."

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt