Vorsichtig klopfte es an der Tür.
"Prinzessin, das Essen ist fertig."
Edna warf Harvey einen schuldbewussten Blick zu.
"Ich komme gleich wieder und dann reden wir darüber, einverstanden?"
Wäre der Stoffhase dazu in der Lage gewesen, hätte er abfällig mit den Schultern gezuckt.
"Lass dir ruhig Zeit. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an."
Also stand Edna auf und ging wenig motiviert in die Küche. Eigentlich hatte sie keinen sonderlich großen Appetit, doch sie wollte nicht undankbar erscheinen.
"Warum so betrübt, mein Kind?"
Seufzend ließ sich Edna auf einen Stuhl plumsen.
"Harvey ist sauer auf mich...", gab sie zu, den Kopf auf ihre Hände gestützt.
"Und wie stehst du dazu?"
Der Schlüsselmeister stellte einen Teller Suppe vor ihr ab. Edna schaute auf.
"Wie soll ich schon dazu stehen?"
"Nun ja, genau betrachtet ist dein kleiner Freund nur eine Projektion deines Unterbewusstseins. Wenn er sich dir gegenüber anders verhält, kann das nur bedeuten, dass du mit dir selbst nicht im Reinen bist, was in Anbetracht der momentanen Umstände auch nicht anders zu erwarten war. Du bist durcheinander, musst dich erst an die neue Situation gewöhnen. Wenn du dich erstmal damit abgefunden hast, wird sich auch dein Stofftier beruhigen."
Schon fing Edna wieder an zu weinen.
"Aber ich will mich nicht damit abfinden... Ich will, dass alles wieder so wird wie früher..."
"Na na, Prinzessin."
Der Schlüsselmeister trat hinter sie und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. "Du wirst sehen, sobald Gras über die Sache gewachsen ist, können dein Freund und du nochmal ganz von vorn anfangen."
"Ja", schniefte Edna, " bestimmt."Die Tage vergingen und Edna fing tatsächlich an sich mit der Situation zu arrangieren.
Ihre Fahrkünste verbesserten dich von Tag zu Tag. Auch ganz alltägliche Dinge wie der Wocheneinkauf oder der Gang zum Briefkasten gelangen ihr inzwischen, ohne dass sie Gefahr lief versehentlich ihre wahre Identität zu verraten.
Sogar Harvey wurde mit der Zeit wieder gesprächiger.
Er und Edna hatten an diesem Nachmittag viel Spaß damit, die Schminkutensilien, die sie im Badezimmer gefunden hatten, auszuprobieren.
"Weißt du, wofür das alles gut ist?", fragte Harvey angesichts der verschiedenen Tiegelchen und Töpfchen, der Stifte und Spiralen und der Pinsel und Quasten.
"Keinen Schimmer. Aber ein paar von den Sachen hab ich schon mal gesehen. Mama hatte früher so ähnliche... Also das da gehört auf jeden Fall ins Gesicht."
"Brilliant ermittelt, Kommissar Konrad. Aber wohin genau?"
"Hm. Lass es uns ausprobieren!"Obwohl ihnen das Experimentieren eine Menge Spaß bereitete, entschloss sich Edna, auf sämtliche Arten von Schminke zu verzichten, da sie sie entweder wie eine Schießbudenfigur aussehen ließ, oder - wenn das überhaupt möglich war - noch blasser machte. Außerdem fand Edna, dass ihr die dunklen Ringe unter ihren Augen auch ganz gut standen. Lediglich etwas Wimperntusche trug sie auf, weil sie der Meinung war, so ihrer Mutter vielleicht ein bisschen ähnlicher zu sehen.
Für heute hatte sie sich vorgenommen mit Harvey einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Dafür suchte sie sich willkürlich irgendwelche bunten Klamotten aus dem Schrank und steckte ihren kleinen Kumpel in eine Handtasche, die schon von Weitem "Second-Hand" zu schreien schien.So also machten sie sich am Nachmittag auf den Weg in eine nahe gelegene Fußgängerzone.
Edna genoss es, nach langer Zeit endlich wieder unter Leute zu gehen, ohne ständig in Angst vor der Polizei zu sein.
Es war ein herrlicher Tag. Der Himmel war wolkenlos und während Edna die unzähligen Schaufenster betrachtete, konnte sie sich ungestört ihren Gedanken hingeben."Isa? Hey, Isa!"
Es dauerte einen Moment bis Edna begriff, dass sie gemeint war.
Sie drehte sich in die Richtung, aus der die Rufe kamen und sah zwei junge Männer eilig auf sie zu laufen.
"Mensch, Isa, hast du Bohnen in den Ohren?", lautete die Begrüßung des einen. Er war vermutlich knapp über zwanzig, hatte kurz geschorenes blondes Haar und war, nun ja... lässig gekleidet.
Bevor sie antworten konnte, meldete sich der andere zu Wort.
"Wir haben dich ja ewig nicht gesehen. Dachten schon, wir hätten dich vergrault."
Der zweite Mann war etwa im selben Alter, hatte dunkelbraune Haare und trug eine Jeans mit Sweatshirt.
Edna vermutete, dass diese Isabelle die beiden Männer wohl erst kurz vor ihrem Ableben kennen gelernt hatte. Es war also unwahrscheinlich, dass ihnen die Veränderung auffiel.
Sie versuchte, so cool wie möglich zu wirken.
"Mir ging es nicht besonders, ich war die meiste Zeit zu Hause."
"Oh, na gut. Hast du vielleicht Bock auf Kino?", fragte der Blonde.
"Äh...klar, wieso nicht", antwortete sie, war sich allerdings nicht sicher, ob das wirklich so eine gute Idee war.
Doch ehe sich sich versah, hatten die beiden sich links und rechts bei ihr untergehakt.
Nun war sie also mit zwei völlig Fremden, deren Namen sie nicht einmal kannte, auf dem Weg in ein dunkles Kino...So sehr sich Edna auch bemühte, sie konnte das unangenehme Gefühl der Unterlegenheit und Hilflosigkeit nicht abschalten. Die beiden waren ihr sowohl körperlich als auch zahlenmäßig überlegen.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ihrem Schicksal zu fügen.
Es dauerte auch nicht lang, da saß sie - nach wie vor zwischen den Männern - in einem weichen Kinosessel und überlegte, wie sie sich dieser unbehaglichen Situation entziehen konnte.
Die zwei jungen Herren, deren Namen sie immer noch nicht kannte, schienen sich prächtig zu amüsieren. Edna hingegen nahm die Handlung des Films kaum wahr. Zu sehr kreisten ihre Gedanken um ihre beiden Begleiter.
Etwa nach der Hälfte der Vorstellung kam ihr die zündende Idee!
Wenn sie vorgab, auf die Toilette zu müssen, könnte sie den Kinosaal problemlos verlassen und dann unbemerkt die Flucht ergreifen. Notfalls konnte sie immer noch behaupten, ihr sei schlecht geworden und sie habe sich deshalb entschieden, nach Hause zu gehen.
Das musste einfach funktionieren, dachte sie sich im Stillen. Wenn sie noch länger zwischen zwei Fremden eingeklemmt war, würde sie früher oder später Angstzustände entwickeln, denn so nett und freundlich sich diese Typen auch gaben, so bedrohlich wirkten sie. Besonders bei der spärlichen Beleuchtung im Saal.
Entschieden und trotzdem leicht nervös stand sie auf.
"Hey, was hast du denn vor?", fragte der Dunkelhaaarige.
"Ich will nur auf die Toilette. Bin gleich zurück", versicherte Edna.
"Aber bleib nicht zu lange, sonst kommen wir und holen dich."
Das mehr als zweideutige Grinsen in seinem Gesicht ließ Edna einen Schauer über den Rücken laufen.
Sie beeilte sich, den Saal so schnell wie möglich zu verlassen.
Die Toiletten waren nicht weit vom Ausgang entfernt, also entschied sie, dass es nicht schaden konnte, dort kurz mal vorbei zu schauen und erst danach den Heimweg anzutreten.
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I Shouldn't Be Free...
FanfictionEdna stand am Fuß der Treppe und blickte auf die seltsam verdrehten Gliedmaßen von Dr. Marcel herab. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, während ihr die letzten Worte des Schlüsselmeisters durch den Kopf schossen... "Ich gehöre nicht in die F...