Es war das sechste Mal, dass das Apfelmädchen pünktlich zur ersten Stunde erschien. Doch es war das erste Mal, dass ich rote Streifen an ihrem Unterarm entdeckte.
Warum schnitt sie sich? Was hatte sie für Gründe? Warum redete sie mit niemandem darüber?
Bedrückt kam mir die Antwort in den Sinn. Weil ihr niemand die Möglichkeit gab, mit ihr zu reden. Weil alle lieber über sie redeten, anstatt mit ihr.
Heute malte sie besonders düstere Bilder. Sie benutzte nur schwarz und grau, und ganz zum Schluss den roten Fineliner, der das repräsentierte, was an ihrem Unterarm an die Oberfläche gelangt war.
»Willst du nicht lieber etwas Fröhliches malen?«, fragte ich sie mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.
Emotionslos blickte sie von ihrem Block auf. »Ich habe keinen Grund dazu.«
Ich malte mir tausend Gründe aus, die es geben könnte und die man ihr geben könnte, um fröhlich zu sein, aber sie alle blieben in meinem Kopf, nicht einen einzigen setzte ich um.
Das Klingeln der Schulglocke riss mich aus meinen Gedanken und sofort standen alle Schüler auf und stürmten aus dem Raum zur Pause. Alle außer das Apfelmädchen. Und ich.
»Hey«, rief mein bester Freund als er in der Tür stand, »willst du nicht mit raus? Ich würde mit der da nicht alleine in einem Raum bleiben.«
»Ich muss dir noch dieses neue Spiel zeigen, was ich gestern heruntergeladen habe. Das macht so süchtig!«, rief ein anderer.
Also stand ich von meinem Platz auf und folgte meinen Freunden aus dem Raum.
Wenig später erblickte ich auch das Apfelmädchen auf dem Hof, das natürlich sofort zu seinem Stammplatz lief.
Und sie pflückte sich einen Apfel und ging.
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Apfelmädchen
Short StorySie pflückte sich einen Apfel und ging. Das tat sie jeden Tag. Jeden, bis auf den letzten. - 2. Teil: "Birnenjunge" - {#22 in Kurzgeschichten; 05.04.18}